Zum Inhalt springen

„Wieder mehr pädagogisch diskutieren“

Vera Reiß, Ministerin im Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur im Gespräch mit Günter Helfrich, Redakteur der GEW-Zeitung Rheinland-Pfalz.

Liebe Vera, zunächst mal herzlichen Dank, dass du dir wieder kurzfristig Zeit für uns genommen hast. Es ist ja gerade mal ein Jahr seit unserem letzten Interview her. Damals war der Anlass deine Ernennung zur Ministerin. Dabei hast du auf meine Frage, ob dir überhaupt Zeit bleibt, eigene Impulse zu setzen, deinen Plan erläutert, die Übergänge von der Schule in den Beruf bzw. die Berufsausbildung zu optimieren. Was ist daraus geworden?

Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir nichts unversucht lassen dürfen, die jungen Menschen besser auf das vorzubereiten, was nach der Schule kommt. Trotz der Kürze der Zeit ist es uns in der Tat gelungen, beim Thema Stärkung der Berufswahlvorbereitung und Studienorientierung einen Schwerpunkt zu setzen. Aber das kann nicht alleine die Aufgabe der Schule sein. Es ging überhaupt nicht darum, den Lehrkräften nochmals eine zusätzliche Aufgabe aufzubürden, sondern den Menschen, die das professionell machen, einen Weg in die Schule zu ebnen. Deshalb bin ich auf die Kammern zugegangen, habe viele Gespräche geführt, unter anderem mit der IHK, mit der Handwerkskammer, auch mit der Landesvereinigung der Unternehmerverbände, mit der Arbeitsagentur und mit den Hochschulen. Das Ergebnis: Wenn dann der Tag der Berufswahlvorbereitung und Studienorientierung verbindlich eingeführt ist – die entsprechende Verwaltungsvorschrift tritt ab dem 1.2.16 in Kraft –, werden diese Institutionen verlässliche Partner sein. Die Expertinnen und Experten werden an diesen Tagen in die Schulen gehen und auf der Grundlage eines verbindlichen Konzepts über 330 Ausbildungsberufe, auch generell über die Bedeutung und Perspektiven der dualen Ausbildung, sowie über mittlerweile – eine verrückte Zahl – 18.000 Studienmöglichkeiten beraten. Wir haben in den letzten Monaten hier im Ministerium und mit den Partnern unglaublich viel gearbeitet, um diesen Tag maximal gut vorzubereiten.

Wenn diese GEW-Zeitung erscheint, gibt es für unseren Bereich ein bemerkens-wertes Jubiläum: 25 Jahre von der SPD dominierte Bildungspolitik, von denen du über zwanzig an immer wichtigerer Stelle (mit)gestaltet hast. Dazu eine ganz persönliche Frage: In welcher Funktion ging es dir am besten?

Das ist eine schöne Frage, weil sie wirklich persönlich ist. Der GEW-Zeitung gegenüber bin ich auch ganz offen: Als Abteilungsleiterin ging es mir am besten. Ich habe die Etappen meines Lebens hier über 21 Jahre mal Revue passieren lassen und mich für die Abteilungsleitung entschieden. Damals ist das große Projekt „Chancen der frühkindlichen Bildung“ angelaufen: Bildung von Anfang an, gebührenfreie Kindertagesstätten sind Stichworte. Es gab zahlreiche Veranstaltungen mit Erzieherinnen und Erziehern; die Dynamik in dieser Zeit war beeindruckend. Das war seinerzeit auch zum ersten Mal, dass hier im Haus die beiden Systeme Schule – ich war auch für die Ganztagsschulen zuständig – und Jugendhilfe zusammengeführt wurden. Wir haben viel voneinander gelernt. Das Betriebsklima in der Abteilung mit vielen fitten Frauen und Männern war sehr gut. Das war meine glücklichste Zeit, auch wenn man meinen sollte, dass dies die politische Leitung sein sollte.

Kleine ergänzende Frage: Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, wie das Berufsleben der Vera Reiß verlaufen wäre, wenn – wie Mitte der 90er-Jahre von den CDU-Anhängern voller Überzeugung erwartet – eine SPD-geführte Landesregierung nur ein kurzes Inter-mezzo geblieben wäre?

Auch das ist eine interessante Frage. Ich glaube, wenn es anders gelaufen wäre, wäre ich dem Beispiel ehemaliger Freundinnen gefolgt und hätte mich auf den eher unsicheren Weg einer Karriere im Hochschulbereich begeben. Das war so die Clique, mit der ich damals zusammen war und mit der ich auch heute noch teilweise gute Kontakte habe. Die sind alle in der Wissenschaft gelandet; eine hat es sogar zur Professorin gebracht.

1991 – also noch vor deiner Zeit im Bildungsministerium – hatte ich schon über anderthalb Jahrzehnte CDU-Bildungspolitik als Lehrer erfahren und erinnere mich an viele bleierne Jahre. Mit Rose Götte (für jüngere Mitglieder: die erste SPD-Bildungsministerin) kam ein geradezu befreiend wirkender Aufbruch insbesondere durch den angestrebten Wandel der Lernkultur (Stichwort: Lern- und Spielschule) sowie generell in der Schulkultur. Teilst du meinen Eindruck – auch nach deinen zahlreichen Schulbesuchen –, dass das so ziemlich verpufft ist? Unserer Redaktion jedenfalls werden kaum mehr diesbezüglich Beträge angeboten, während es früher regelmäßig geklippert und geklappert hat.

Ich würde mir in der Tat wünschen, dass wir in der Zukunft wieder mehr über pädagogische Inhalte sprechen, als dies in den vergangenen Jahren der Fall war. Die schulpolitische Diskussion ist in allen Ländern sehr stark von Schulstrukturreformen und damit einhergehend von Finanzen bestimmt. Nicht falsch verstehen: Bildung braucht eine vernünftige Finanzausstattung, aber man hat sich sehr stark auf die Diskussion der Rahmenbedingungen konzentriert. Ich glaube übrigens auch, dass die empirische Bildungsforschung ihren Anteil daran hat – in meinen Augen einen negativen. Wir sollten wieder mehr darüber diskutieren, wie Schule pädagogisch gestaltet und gelebt werden muss, um ihren großen Aufgaben gerecht zu werden. Und es gibt Unterschiede, auch wenn man manchmal den Anschein hat, als sei alles so gleich geworden; als sei es ganz egal, aus welchem politischem Lager man kommt. Das stimmt ja überhaupt nicht. Die Debatte wird nur nicht darüber geführt.
Ich gebe mal ein Beispiel: Ich ärgere mich kolossal über eine Postkartenaktion der Landes-CDU, worauf steht: „Unter Rot-Grün lernt man schreiben nach Gehör.“ Da würde ich mir mal eine gründliche inhaltliche Diskussion wünschen. Was ist denn das Bild von Grundschule? Was ist denn Grundschulpädagogik? Was heißt denn ganzheitliche Bildung und Erziehung? Die spannende Frage ist doch: Wie muss unser Bildungssystem verfasst sein, dass wir den ganz unterschiedlichen Herausforderungen gerecht werden? Kinder mit Behinderung, Kinder, die Sprachförderbedarf haben, Kinder, deren Eltern aus nicht bildungsaffinen Elternhäusern kommen, Jugendliche, die potenzielle Schulabbrecher sind – mal ganz abgesehen von der wichtigen Aufgabe der Integration von Kindern und Jugendlichen, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Und das ist ja viel mehr als Sprachunterricht.

Auch wenn sie nicht dem GEW-Ideal entsprach: Die Ganztagsschule in Angebotsform hat bundesweit große Anerkennung gefunden. Wie beurteilst du den aktuellen Stand? Gibt es zunehmend rhythmisierte statt additive Modelle?

Bei den Ganztagsschulen haben wir inzwischen im ganzen Land eine gute Versorgung. Was die Modelle betrifft: Knapp die Hälfte ist rhythmisiert. Allerdings ist der Trend zu mehr Rhythmisierung, den es eine Weile gab, im Moment gestoppt. Es gibt eine eher gegenläufige Entwicklung; darüber müssen wir mit den Schulen ins Gespräch kommen. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass in der rhythmisierten Form der Ganztagsschule deutlich mehr pädagogischer Gestaltungsspielraum liegt.

Thema Schulstrukturreform. Da gab es bundesweit kaum Anerkennung, aber immerhin Respekt, dass die Veränderungen ohne „Schulkrieg“ wie andernorts umgesetzt werden konnten. Wie geht es auf diesem Gebiet weiter?

Die Schulstrukturreform ist mit dem Schuljahr 2012/13 abgeschlossen worden, aber selbstverständlich muss unsere Realschule plus auch weiterentwickelt werden. Wir müssen untersuchen, wie die Fachoberschule läuft, wo sie gut angenommen wird, wie es mit den Fachrichtungen aussieht. Ich freue mich übrigens sehr, dass viele Fachoberschüler ins berufsbildende System übergehen, da also quasi eine Befriedung der Schularten eingetreten ist. Dann müssen wir insbesondere schauen, wie die innerliche pädagogische Verfasstheit der Realschulen plus aussieht. Angedacht ist, wissenschaftlich analysieren zu lassen, wie sich die beiden Systeme integrative und kooperative Realschule plus pädagogisch entwickelt haben und wo es gegebenenfalls Veränderungsbedarf gibt.

Die aktuellen Zahlen bei Umfragen sprechen ja eher dagegen: Aber du bist sicher felsenfest davon überzeugt, auch im April noch Bildungsministerin zu sein bzw. dass unser Bereich weiterhin von deiner Partei verantwortet wird. Deshalb frage ich auch gar nicht, was aus einer Ex-Ministerin ohne Landtagsmandat würde, sondern möchte abschließend ganz allgemein wissen: Was wären deine Zukunftsprojekte, falls euch der Wähler den Regierungsauftrag erneut gibt?

Ein ganz zentrales Projekt in einer kommenden Amtszeit wäre eine deutlich größere Selbstständigkeit von Schule, und zwar mit allem, was dazu gehört: mit der Möglichkeit, Lehrkräfte einzustellen, mit Budgetverwaltung, mit der vollen Verantwortung für pädagogische Konzepte. Die Rolle von Ministerium und Schulverwaltung wäre die positiv begleitende, aber man braucht die Verlagerung hin zu einer größeren Eigenständigkeit der Schulen. Davon bin ich total überzeugt.

Vielen Dank für das Gespräch

Foto: MBWWK