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Verwaltungsvorschrift „Unterricht von Schüler_innen mit Migrationshintergrund“

Stellungnahme zur Neufassung der Verwaltungsvorschrift (VV) „Unterricht von Schüler_innen mit Migrationshintergrund“

Schreiben des MBWWK vom 10.06.2015, Az.: 9413 b – Tgb.-Nr. 2112/15

Vorbemerkungen

Der vorgelegte Entwurf stellt keine einfache Arbeitsgrundlage für eine qualifizierte Stellungnahme dar, weil in der synoptischen Gegenüberstellung der alten und neuen Fassungen die Veränderungen nicht markiert sind und keine Begründungen (z.B. für den Wegfall der Unterteilung in Eingliederungslehrgänge und Sprachvorkurse oder die Streichung von Russisch)  für die inhaltlichen Änderungen geliefert werden.

Die GEW bittet deshalb darum, bei zukünftigen Anhörverfahren entsprechend aufbereitete Vorlagen zu liefern.

Allgemeine Einschätzung des Entwurfs

Die Änderungen innerhalb der VV sind vor dem Hintergrund der stark steigenden Zahl von Flüchtlingen und des daraufhin von der Landesregierung Anfang des Jahres propagierten 10-Punkte-Plans zur Intensivierung und Neustrukturierung der Sprachförderung der Kinder und Jugendlichen mit unzureichenden oder fehlenden Deutschkenntnissen zu sehen.

Die GEW begrüßt, dass der Unterricht von Schüler_innen mit Migrationshintergrund auch weiterhin vorwiegend integrativ im regulären Unterricht erfolgen soll und zusätzliche besondere Sprachfördermaßnahmen in Form von Intensiv-Sprachkursen einzurichten sind, so lange bei den Schüler_innen die sprachlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Teilnahme am regulären Unterricht fehlen. Diese Grundsatzentscheidung entspricht den wissenschaftlichen Studien und internationalen Vergleichsuntersuchungen, nach denen die Integration von Zuwander_innen überall dort erfolgreich verläuft, wo notwendige Intensiv-Sprachkurse für Kinder und Jugendliche mit fehlenden oder geringen Kompetenzen in der Sprache des aufnehmenden Landes mit dem Ziel eines möglichst zügigen Übergangs in die jeweiligen Regelklassen angeboten werden. Die Teilnahme am Unterricht in den Regelklassen erhöht die Motivation für das Sprachenlernen, weil es mit Erfolgserlebnissen im Fachunterricht verbunden ist. Vor allem verbessert der gemeinsame Unterricht das Sprachenlernen durch den intensiven Kontakt mit Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Die Entscheidung über die Dauer von Deutsch-Intensivkursen und den Zeitpunkt der vollen oder teilweisen Teilnahme am gemeinsamen Regelunterricht muss sich nach den individuellen Lernvoraussetzungen und Lernfortschritten richten und auch von der Selbsteinschätzung der Lernenden mit Migrationshintergrund abhängig gemacht werden. (Die Streichung des Satzes „Wo immer sinnvoll, soll die Förderung in den Klassenunterricht integriert werden“ in Ziffer 3 könnte diese Grund-satzentscheidung allerdings aufweichen!)

Die GEW kritisiert, dass Sprachfördermaßnahmen nur bis zur 10. Klasse angeboten werden dürfen, d.h. die Einrichtung von Deutsch-Intensivkursen für Seiteneinsteiger_innen insbesondere im berufsbildenden Bereich der Sekundarstufe II nicht möglich ist. Der vorgesehene Stütz- und Förderunterricht für Schüler_innen in BBS-Vollzeitbildungsgängen (Berufsvorbereitungsjahr, Berufsfachschule), deren Sprachkompetenz für die Aufnahme eines Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnisses noch nicht ausreicht, kann solche zeitlich begrenzten Intensivkurse nicht ersetzen.

Stütz- und Förderunterricht müsste zusätzlich auch dort angeboten werden, wo bei Jugendlichen in einem Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis im Fachunterricht deutlich wird, dass die Erreichung des Bildungsgangs- oder Ausbildungsziels wegen mangelnder Sprachkompetenz gefährdet ist. Dabei geht es um Angebote über die regulär vorgesehenen 12 Wochenstunden Berufsschulunterricht hinaus – und zwar ohne die einschränkende Bedingung „im Rahmen der organisatorischen und personellen Möglichkeiten“ (vgl. Ziffer 3.2). Die zusätzliche Sprachförderung während der dualen Ausbildung könnte auch in enger Kooperation zwischen Fachlehrkräften der Berufsschulen und externen Trägern (z.B. INBI in Mainz, Volkshochschulen, ausbildungsbegleitende Hilfen) erfolgen.

Die Umsetzung der integrativen sprachlichen Förderung setzt allerdings auf Seiten der Lehrkräfte und Schulen bestimmte Gelingensbedingungen voraus, die in Rheinland-Pfalz bisher nicht ausreichend gegeben sind:

  • Der Grundsatz, dass alles fachliche Lernen immer auch sprachliches Lernen ist und dass der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen entscheidend von ihrer Lese- und Schreibkompetenz bestimmt wird, muss durch eine entsprechende Lehrkräfteaus- und -fortbildung untermauert werden. Hierzu gehören die Reflexion der sprachlichen Vorbildfunktion der Fachlehrkräfte, Diagnosekompetenz, Strategien zur Förderung der Lese-, Schreib-, Sprech- und Hörkompetenz, sinnvoller Umgang mit schriftlichen und mündlichen Fehlern von Lernenden, sprachwissen­schaftliche Grundlagen in Deutsch als Zweitsprache/Fremdsprache (DaZ, DaF, insbesondere in der Sekundarstufe I und II).
  • Sprachförderung ist weder alleinige Aufgabe des Sprachunterrichts, noch kann sie allein von Fachlehrkräften in ihren jeweiligen Unterrichtsfächern geleistet werden. Sie ist vielmehr eine Aufgabe aller Fächer und Lehrkräfte und somit Bestandteil der Schulentwicklung. Die Schulorganisation muss deshalb Möglichkeiten für die Kooperation der Deutsch- und Fachlehrkräfte vorsehen, bei der die jeweiligen Kompetenzen der beiden Lehrkräftegruppen sich gegenseitig ergänzen und zur Entwicklung von Materialien für die individuelle Förderung im jeweiligen Fach führen.
  • Es müssen Anreize für Lehrkräfte geschaffen werden, die Herausforderungen der integrativen Sprachförderung im Fachunterricht anzunehmen durch Weiterbildung und die Erarbeitung von didaktisch-methodischen Konzepten, auf die jeweils alle betroffenen Lehrkräfte Zugriff haben. Dies könnte z.B. durch Freistellungsstunden oder Berücksichtigung bei Beförderungen geschehen.
  • Solange die Schulen nicht über ausreichend Lehrkräfte mit DaZ- oder DaF-Kompetenz verfügen, sollten sie mit externen Partnern (Volkshochschulen und andere Weiterbildungsträger) zusammenarbei­ten, die über solche Kompetenzen verfügen, z.B. durch Beschäftigung von dort tätigen Honorarkräf­ten als angestellte Lehrkräfte in den Schulen.
  • Die alte und neue Verpflichtung zur Vorlage eines schulischen Sprachförderkonzeptes erscheint sinnvoll, die Schulen brauchen aber bei der Erstellung auch Unterstützung von außen (z.B. von Seiten des PL oder schulischen und außerschulischen Trägern).

 

Zu den Einzelbestimmungen

zu Ziffer 2, letzter Absatz:

Der Stütz- und Förderunterricht für Jugendliche, die wegen fehlender deutscher Sprachkenntnisse die schulischen Vollzeitbildungsgänge besuchen, reicht für eine bessere soziale und berufliche Eingliederung nicht aus. Für diese Jugendlichen müssten analog zu den Regelungen für die Primarstufe und die Sekundarstufe I zeitlich befristete Deutsch-Intensivkurse angeboten werden.

zu Ziffer 3:

Die im Rahmen der besonderen Sprachförderung vorgenommene Einschränkung durch den Passus „Diese besondere Sprachförderung kann in der Regel bis zur Klassenstufe 10 eingerichtet werden.“ fokussiert diese Aufgabe zu stark auf Grundschule und Sekundarstufe I und klammert die Belange der Seiteneinsteiger_innen im BBS-Bereich oder der Gymnasialen Oberstufe aus. Offensichtlich geht man hier von der irrigen Annahme aus, dass der Spracherwerb spätestens mit dem Besuch der Sekundarstufe I abgeschlossen sei.

  • Die besonderen Fördermaßnahmen, insbesondere Deutsch-Intensivkurse, müssen auf den Bereich der BBS ausgedehnt werden, damit Zuwander_innen eine duale Ausbildung in Deutschland absolvie­ren können. Die Intensivkurse müssen sich außerdem mindestens an der Stundenzahl der Migrati­onskurse orientieren. Als Vorbedingung für eine erfolgreiche duale Berufsausbildung fordern Exper­t_innen das Mindestniveau B 2 des europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Nur mit einer sol­chen sprachlichen Vorbereitung können auch die Verpflichtungen, die Deutschland gegenüber den EU-Partnerländern in dem Projekt MobiPro-EU (duale Ausbildung ausländischer Jugendlicher in Deutschland) eingegangen ist, erfüllt werden.
  • Die GEW fordert außerdem die Beibehaltung des Satzes „Wo immer sinnvoll, soll die Förderung in den Klassenunterricht integriert werden.“

zu Ziffer 3.1:

Die GEW begrüßt die Einrichtung von einheitlichen Deutsch-Intensivkursen in der Erwartung, dass dies zu einer qualitativen Verbesserung der Kurse führt. Wir fordern, dass der Umfang der Deutsch-Intensivkurse von 10 bis 15 LWS in der Primarstufe und 15 bis 20 LWS in der Sekundarstufe I sich jeweils am oberen Ende der LWS orientieren und die Schüler_innen somit i.d.R. 15 LWS in der Primarstufe und 20 LWS in der Sekundarstufe I haben werden. 

Begründen können wir unsere Forderung auch damit, dass  die Zuwanderungen aus vielen verschiedenen Nationen erfolgen und dieser Entwicklung bis heute allerdings nicht genügend Rechnung getragen wird. In den Ballungsräumen oder in Schulen, die bereits seit längerem erfolgreiche Sprachförderkurse durchführen, sind mitunter bis zu 18 verschiedene Nationen in einem Kurs vereint. Hinzu kommt, dass es über die Klassenstufen hinweg i.d.R. unterschiedliche Altersgruppen gibt. Eine weitere Erschwernis sind Schüler_innen, die nicht alphabetisiert sind bzw. mit der lateinischen Schrift nicht vertraut sind. Es gibt Jugendliche, die nie eine Schule in ihren Herkunftsländern besuchen durften. Eine besondere Herausforderung sind Schüler_innen aus Krisengebieten, die traumatisiert sind.

Aufgrund dieser erschwerten Ausgangsbedingungen erscheint der GEW die Lerngruppenmesszahl von 20 für Deutsch-Intensivkurse als viel zu hoch und wir fordern hier eine Höchstzahl von 12 Schüler_innen  anzusetzen.

Die Verbindlichkeit des Besuchs der Integrationskurse sollte dadurch verdeutlicht werden, dass dieser Unterricht nach Möglichkeit in der Schule selbst stattfindet. Bei abweichenden Schulstandorten ist eine geregelte Schülerbeförderung durch den Schulträger sicherzustellen.

zu Ziffer 3.2:

Die hier vorgenommene Einschränkung, für berufsschulpflichtige Jugendliche Stütz- und Fördermaßnahmen nur „im Rahmen der organisatorischen und personellen Möglichkeiten“ (der Schule?) einzurichten, lehnt die GEW insbesondere im Hinblick auf die nicht befriedigende Unterrichtsversorgung in den berufsbildenden Schulen, aber auch allen anderen Schularten ab. Nach dieser Formulierung könnten Stütz- und Förderunterricht für Jugendliche mit Migrationshintergrund praktisch an keiner Schule angeboten werden.

 zu Ziffer 4.1:

Die einschränkende Bedingung, dass Sprachschwierigkeiten bei Leistungsanforderungen und Leistungsbeurteilung nur im ersten Jahr des Schulbesuchs für berufsbildende Schulen gelten, lehnt die GEW ab.

zu Ziffer 4.3:

Die GEW begrüßt den Wegfall der Bedingung, dass die betreffenden Schüler_innen Englisch im Herkunftsland nicht erlernt haben dürfen, um ihre Herkunftssprache als 2. Fremdsprache anerkennen zu lassen.

Hier werden die Begriffe „Muttersprache“ und „Amtssprache des Herkunftslandes“ allerdings synonym verwendet. Besser jeweils: „Muttersprache oder Amtssprache des Herkunftslandes“.

zu Ziffer 5:

Die GEW fordert, dass die im Ausland absolvierte Lehrkräfteausbildung – ohne Errichtung bürokratischer Hürden - voll anerkannt wird und die betroffenen Kolleg_innen so behandelt werden wie die in Deutschland ausgebildeten Lehrkräfte für die entsprechende Schulform.

In Ziffer 5.2 wird geregelt, dass der Sprachunterricht bis zum Ende der Sekundarstufe I durchgeführt werden soll. Diese Verbindlichkeit in der Sekundarstufe I ist wichtig, sollte aber nicht als zusätzliches Angebot deklariert werden, sondern als Unterricht zur Förderung der Mehrsprachigkeit mit mindestens zwei Wochenstunden im Stundenplan verankert sein.

Der herkunftssprachliche Unterricht (HSU) sollte bei ausreichender Teilnehmer_innenzahl bis zum Ende der Sekundarstufe II ausgeweitet werden können.

Für die Absolvent_innen dieser Bildungsgänge ist es äußerst sinnvoll, wenn sie ihre Herkunftssprache als Fremdsprache weiterführen können, weil einschlägige Studien hinreichend belegen, dass dem HSU grundlegende Bedeutung für die Identitätsentwicklung aufgrund der sprachlichen und kulturellen Persönlichkeitsbildung zukommt.

Der HSU muss dabei durch ein Curriculum, welches die zu erreichenden Standards beschreibt, überprüfbar und vergleichbar werden.

Schüler_innen, die gemäß solcher Standards ausreichende Kenntnisse erworben haben, sollen schließlich durch fachkundige Lehrkräfte geprüft werden. Ihre Prüfungsleistung (Note) soll dann in Analogie zur Ordnung für die Feststellungsprüfung (Sprachprüfung) für Schüler_innen, deren Muttersprache  oder Herkunftssprache nicht Deutsch ist, als versetzungsrelevant anerkannt werden.

In Ziffer 5.5 ist die Mindestteilnehmer_innenzahl einer Gruppe mit in der Regel 10 Schüler_innen angegeben. Aufgrund zurückgehender Schüler_innenzahlen sollte die Mindestteilnehmer_innenzahl auf 8 Schüler_innen gesenkt werden.

Bezüglich Ziffer 5.11. fordert die GEW die Aufnahme dieser Bücher in die Liste der Schulbuchausleihe.

zu Anlage „Feststellungsprüfung“:

Die Anlage „Ordnung für die Feststellungsprüfung (Sprachprüfung) für Schüler_innen, deren Muttersprache oder Herkunftssprache nicht Deutsch ist“ sieht vor, dass Schüler_innen an allgemeinbildenden Schulen die Amtssprache des Herkunftslandes als 1. oder 2. Fremdsprache anerkannt werden kann. In Frage stellen möchten wir hier die Beschränkung der Regelung auf die Klassenstufen 6 bis 10 und fordern diese Möglichkeit auch für die BBS, z.B. für die Fachschulen für Sozialwesen oder Altenpflege. Für die Absolvent_innen dieser Bildungsgänge ist es sicher äußerst sinnvoll, wenn sie als Erzieher_innen oder Altenpfleger_innen ihre Herkunftssprache als Fremdsprache weiterführen können, weil sie dann mit Kindern und Jugendlichen und deren Eltern bzw. mit den pflegebedürftigen älteren Menschen („kultur-sensible Pflege“) besser kommunizieren können.

zu Anlage, Ziffer 7:

Bei allen anderen Bestimmungen in der VV ist „gymnasiale Oberstufe“ durch „gymnasiale Oberstufe und beruflichen Gymnasien“ ersetzt worden. Bei der Feststellungsprüfung wurde diese Erweiterung nicht vorgenommen.

Die GEW geht davon aus, dass es sich dabei um ein Versehen handelt und dass auch an beruflichen Gymnasien ein Fremdsprachenangebot in den Herkunftssprachen der Schüler_innen möglich ist, wenn sich genügend Schüler_innen dafür interessieren.

Kontakt
Peter Blase-Geiger
Geschäftsführer GEW Rheinland-Pfalz
Adresse Martinsstr. 17
55116 Mainz
Telefon:  06131 28988-15