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Fachkräftemangel in der Bildung

Die Belastungen kommen von allen Seiten

In Berlin hat der Fachkräftemangel voll zugeschlagen. Er wird ausgetragen auf dem Rücken der Schülerinnen und Schüler, die professionelle Förderung besonders nötig haben. Und zu Lasten der zu wenigen Pädagoginnen und Pädagogen.

„Es ist allerhöchste Zeit, dass die, die Bildung umsetzen, stärker einbezogen werden.“ (Stephan Wahner, Leiter der Carl-Humann-Grundschule, Berlin-Prenzlauer Berg / Foto: Kay Herschelmann)

So sollte eine Grundschule in Zeiten des nahenden Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung häufiger aussehen: Mehr als 500 Schülerinnen und Schüler lernen in der Wedding-Schule, einer Grundschule in gebundenem Ganztag. Unterricht, Freizeit und Förderung wechseln sich ab; mal ist nachmittags Mathe, mal Gartenarbeit, mal üben die Erzieherinnen und Erzieher mit den Kindern. Schulleiter Philipp Lorenz und die Leitende Erzieherin Martina Seelig arbeiten im Team; ihre Büros sind durch eine Zwischentür verbunden. Das erleichtert die Abstimmung, „denn natürlich tragen bei uns auch Erzieherinnen und Erzieher Bildungsverantwortung“, sagt Lorenz. Acht Stunden in der Woche sind sie im Unterricht dabei, sonst wären sie während der Zeit in eigener Regie nicht auf dem Stand.

„Das System ist so auf Kante genäht, dass wir nicht von Krise, sondern von Katastrophe sprechen.“ (Philipp Lorenz)

Soweit die Theorie. Wie wichtig es ist, diese einzuhalten, machten die für Grundschulen desaströsen Ergebnisse der Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungsbereich (IQB) im Oktober noch einmal überdeutlich. Die Praxis sieht oft anders aus – auch an der Wedding-Schule. „Die Erzieherinnen müssen sich nicht nur gegenseitig vertreten. Sie betreuen auch die Kinder, wenn eine Lehrkraft und damit Unterricht ausfällt“, sagt Seelig. Oft klingelt morgens vier- bis fünfmal das Telefon wegen einer Krankmeldung. „Das hat auch mit der allgemeinen Lage zu tun“, erläutert Lorenz, „die Belastungen kommen von allen Seiten.“ Und: „Das System ist so auf Kante genäht, dass wir nicht von Krise, sondern von Katastrophe sprechen.“

Und schon nimmt das Gespräch eine überraschende Wendung: „Sie haben Politikwissenschaften studiert?“, sagt der Schulleiter, „wir könnten Sie im Grunde sofort einstellen.“ „In Gewi bekommen wir Sie irgendwie rein“, ergänzt Seelig. Das zweite Fach könne berufsbegleitend studiert werden, indes: „Wenn Sie Pech haben, müssen wir Sie direkt als Klassenlehrerin einsetzen“, so Lorenz, „doch wir versuchen natürlich, das zu vermeiden.“

Zwar werden Quer- und Seiteneinsteigende von Lehrkräften begleitet – auf dem Papier mit zwei Stunden in der Woche –, auch eine Erzieherin kommt schon mal mit in den Unterricht. Dennoch ist ein Tag in einer Klasse ohne gründliche Ausbildung wie „fliegen, weil man das mal im Fernsehen gesehen“ hat, erklärt Lorenz. Mit Folgen, die im Grunde einem Absturz nicht unähnlich sind.

Viele Kinder mit Förderstatus

Denn die Grundschule in Berlin-Wedding stellt sich ja nicht zufällig so auf die Hinterbeine: Für mehr als neun von zehn Schülerinnen und Schülern ist Deutsch nicht die Herkunftssprache; drei von zehn haben einen Förderstatus. „Die Kinder haben es verdient, gut gefördert zu werden“, sagt Schulleiter Lorenz, „und sie haben ein Anrecht darauf, von Profis unterrichtet zu werden.“ Was eine Schule an sozialem Ausgleich leisten kann, weiß er auch: „Geben Sie mir mehr Raum, mehr Leute oder weniger Kinder. Dann schaffen wir alles.“

Dabei arbeitet an der Weddinger Grundschule für Berliner Verhältnisse viel voll ausgebildetes Personal; Quer- und Seiteneinsteiger sind in der Minderheit. „Von den wenigen Laufbahnbewerbern kommen hier noch recht viele an“, erklärt der Schulleiter. Dasselbe gelte für Erzieherinnen und Erzieher. Weil man gelernt hat, dass auch Menschen aus anderen Berufen „großartige Kolleginnen und Kollegen werden können“, stecke man zudem viel Arbeit in ihre Anleitung: „Ob Lehrkräfte, Erzieher oder Sonderpädagogen – wir sind seit Jahren unser eigener Ausbildungsbetrieb.“

Lehrkräftemangel ungleich verteilt

Die Schule habe Glück im Unglück: weil sie einen Teamgeist, ein Miteinander ausstrahlt, was sich wohl herumspricht. „Es gibt Schulen, in denen zehn, zwölf Lehrer fehlen. Die schaffen den Regelunterricht nicht“, berichtet Lorenz. Und: „Quereinstieg, was ist das?“, habe ihn ein Kollege aus dem wohlhabenden Berliner Süden mal gefragt, erzählt der Schulleiter. Das macht deutlich, was auch die Forschung sagt: Der Fachkräftemangel trifft vor allem Schulen mit wenigen Ressourcen, überdurchschnittlich oft in Stadtvierteln, in denen viele arme Menschen leben.

Hohe Fluktuation

Und: Der Mangel trifft nicht nur Lehrkräfte. Viele Erzieherinnen und Erzieher wandern bereits in der Ausbildung aus dem Beruf ab; die Zahlen der Fachschulen täuschen“, erklärt Bartlomiej Jagodzinski, der bald die in Rente gehende Seelig als Leitender Erzieher ablösen wird. Seelig berichtet zudem von einer Art Kettenreaktion: Viele Erzieherinnen und Erzieher ziehe es auf Sozialarbeiterschulen, um sich für eine Profession zu qualifizieren, aus der 2015/16 zahllose Menschen in die Geflüchtetenarbeit abgewandert sind.

„Wir sind sehenden Auges in den Mangel hineingelaufen. Und es gibt bis heute keine Strategie, ihn zu beheben.“

Auch unter angehenden Lehrkräften ist die Fluktuation hoch; in jedem Jahr sind die Zahlen der Absolventinnen und Absolventen wie der Studienzulassungen niedriger als zwischen dem Land und den Hochschulen vereinbart. Der Berliner Senat reagierte jüngst auf den Mangel, indem er Schulen nur noch mit 98 Prozent des benötigten Personals ausstattete. Lorenz flucht darüber geradezu: „Bildungspolitisch verheerend“, nennt er das, „im Grunde brauchen wir 120 Prozent, um Krankheiten, Schwangerschaften und so weiter auszugleichen.“ Nur woher sollten diese 120 Prozent kommen, wenn es das Personal doch gar nicht gibt? Das, stimmt er zu, sei das Allerschlimmste: „Wir sind sehenden Auges in den Mangel hineingelaufen. Und es gibt bis heute keine Strategie, ihn zu beheben.“

GEW Berlin kämpft für kleinere Klassen

Die GEW Berlin kämpft für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz, der kleinere Klassen festschreiben soll. Ziel ist, die Belastung zu senken, die die Gewerkschaft für „Folge und Ursache des Lehrkräftemangels“ zugleich hält. Nach Lorenz‘ Einschätzung wären kleinere Klassen auch ein wichtiger Schritt für die Bildungsqualität. Doch es gibt Forschungsergebnisse, die sagen, dass die Klassengröße keinen Einfluss auf Lernerfolg habe. Da kann der Schulleiter nur den Kopf schütteln: „Das ist gegen jede Erfahrung. Natürlich können Sie 16 Kinder in der Klasse individueller fördern als 25.“ Über die Hochzeit der Pandemie mit halbierten Lerngruppen sagt Lorenz: „So gute Ergebnisse hatten wir noch nie.“

Bundesländer konkurrieren

Stephan Wahner ist Sprecher der Fachgruppe Grundschule in der Vereinigung der Berliner Schulleitungen in der GEW und in regem Austausch in der Bundesfachgruppe Grundschulen: „Auch dort ist der Fachkräftemangel stetes Thema“, sagt er, „frappierend dabei: wie unterschiedlich die Lage in den Ländern ist – und wie verbreitet es ist, sich gegenseitig Personal abzujagen.“ Ihn selbst vertrieb das Land Berlin vor 20 Jahren. Erst wartete er ein Jahr auf das Referendariat, dann bot man ihm einen Ein-Euro-Job als Deutschkurs-Dozent an. Wahner ging nach Nordrhein-Westfalen. „Der Schweinezyklus, das sich stete Abwechseln zwischen zu wenigen und zu vielen Lehrkräften, ist seit Jahrzehnten bekannt“, konstatiert er. „Auch in Zeiten mit einer guten Lehrkräfteversorgung müssen Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet und eingestellt werden.“

Heute leitet Wahner die Carl-Humann-Grundschule im bürgerlich-akademisch geprägten Prenzlauer Berg, in die es das wenige Personal noch eher zieht als in andere Bezirke Berlins. „Der Alltag in sogenannten Brennpunktschulen ist ein ganz anderer“, sagt er, „doch auch bei uns gehen in drei, vier Jahren viele in Rente.“ Bereits heute beschreibt er die Personalplanung als „abenteuerlich“. Jeden Februar müsse er die Schülerzahlen für August melden, nach denen sein Personal bemessen wird – und dann kämen jedes Mal mehr Kinder als gedacht. Weil auch die Personalstellen überlastet sind, sei die Schulrätin nie auf dem aktuellen Stand: „Wer ist krank, in Teilzeit, hat die Elternzeit verlängert? All das kann sie nicht wissen. Uns fehlen dann dringend benötigte Kräfte“, erklärt Wahner. Also würden mehr Kinder in die Klassen gesteckt.

„Schulverbünde könnten helfen, die gröbste Not zu lindern.“ (Stephan Wahner)

Doch der Schulleiter hat Ideen, die sich umsetzen ließen, bevor die nächste Lehrkräftegeneration von den Hochschulen kommt: Die Einführung einer mobilen Reserve, die kurzfristige Ausfälle abfedern könnte, gehört dazu, und die bessere Zusammenarbeit im Stadtteil: „Für Schulen ist es oft leichter, Kontakte nach Spanien zu knüpfen als zu einer Nachbarschule“, konstatiert er trocken, „Schulverbünde könnten helfen, die gröbste Not zu lindern.“ Zum Beispiel bei der Bildung von Fachlehrerpools – denn auch die braucht es in der sechsjährigen Grundschule –, deren Mitglieder an mehr als einer Schule unterrichten. Schulleiter Wahner kann sich durchaus vorstellen, solche Pools mit einem sinnvollen Umbau von Schule zu verknüpfen: weg vom Stundentakt, hin zum Epochen-Unterricht: „So könnte eine Geschichtslehrerin für einige Monate in zwei oder drei Schulen unterrichten – und zugleich würde der Unterricht moderner.“

„Es ist allerhöchste Zeit, dass die, die Bildung umsetzen, stärker einbezogen werden.“

Einen dringenden Wunsch hat er auch: Dies alles sollte an Runden Tischen besprochen werden, an denen außer der Schulverwaltung auch die Hochschulen und die Beschäftigten sitzen: „Es ist allerhöchste Zeit, dass die, die Bildung umsetzen, stärker einbezogen werden“, erklärt Wahner, denn: „Wenn es so weitergeht, wird die Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz an Grundschulen 2026 in eine Katastrophe führen.“