Entwurf der Schulordnung für den inklusiven Unterricht an öffentlichen Schulen
Stellungnahme zum Entwurf der Schulordnung für den inklusiven Unterricht an öffentlichen Schulen
Schreiben des BM vom 24.05.2023, Az.: 0506-0002#2022/0001-0901 9423B
Die GEW Rheinland-Pfalz nimmt zu dem o.g. Entwurf wie folgt Stellung:
Grundsätzliches
Das System Schwerpunktschule sollte seit seiner Einführung im Jahre 2002 in Rheinland-Pfalz als Brücke dienen, den inklusiven Unterricht Zug um Zug zur Normalität werden zu lassen, d.h. entsprechende Konzepte zu entwerfen und umzusetzen, um möglichst allen Schülerinnen und Schülern eine ihnen angemessene Förderung zuteilwerden zu lassen.
Die Zielrichtung war klar: individuelle Förderung, inklusiver Unterricht, sonderpädagogisches Know-How und Unterstützung sollten das gemeinsame Lernen in die „Fläche“, d.h. in die Normalität inklusiv gelebter Schule geleiten.
Eine tragfähige Ausstattung der Schulen, die den inklusiven Unterricht umsetzen, fehlt bis heute. Die Experimente, zu einer ordentlichen Personalisierung zu kommen, waren teilweise „haarsträubend“ und sind nach wie vor in keiner Weise gelöst.
Im Weg stand und steht die Sonderschulordnung aus dem Jahr 2000 und eine fehlende Rechtsgrundlage, wie inklusiver Unterricht umgesetzt werden soll. Mit Hilfskonstruktionen, mit diversen Übergangsregelungen, verschiedenen Info-Broschüren, mit Texten auf dem Bildungsserver etc. wurden Vorgaben und Rechtsgrundlagen im Sinne einer Improvisation geschaffen, die vorübergehend die Lücken bis zu einer neuen Schulordnung schließen sollten.
So wurde in den vergangenen 20 Jahren agiert.
Die GEW Rheinland-Pfalz begrüßt daher die von uns seit Jahren geforderte Ablösung der Sonderschulordnung aus dem Jahr 2000 durch eine neu gefasste Förderschulordnung und die längst überfällige, nun erstmals erstellte Schulordnung für den inklusiven Unterricht an öffentlichen Schulen, die uns als Entwurfsfassungen zur Stellungnahme vorgelegt wurden. Die dringend erforderlichen verbindlichen Rechtsgrundlagen für ein landesweit einheitliches Verwaltungshandeln können durch diese Verordnungen endlich geschaffen und die bisherigen Regelungen, in Einzelschreiben des Bildungsministeriums und der ADD mit all den, auch regionalen, Uneinheitlichkeiten, überwunden werden.
Die Fragen, die sich unmittelbar stellen und auf die aus Sicht der GEW keine Antworten sichtbar sind, lauten:
1. Wenn inklusiver Unterricht im Mittelpunkt steht und Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene einen Rechtsanspruch haben, gemäß ihrem individuellen Bedürfnis eine individuelle und angemessene Förderung zu erhalten, wieso gibt es erneut eine mindestens Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit entsprechendem Förderbedarf jetzt auseinanderdividiert werden, indem diesem Bedarf einerseits in der Förderschule oder andererseits im inklusiven Unterricht (i.d.R. an einer Schwerpunktschule) entsprochen werden soll?
2. Wieso sind zwei neue Verordnungen notwendig?
Die Logik wäre doch, aus dem Schulgesetz ableitend eine übergeordnete Schulordnung für alle (auch für die Förderschulen) vorzulegen und dann die fachlich zu berücksichtigenden Unterschiede in den einzelnen Schularten und die Darstellung des Unterrichts unter sonderpädagogischen Aspekten inklusiv im Regel-System oder in einer Förderschule abzubilden.
Wir warten seit mindestens 2004 in Rheinland-Pfalz auf eine neue Förderschulordnung und zumindest seit der Schulstrukturreform auch auf Klarheit in der Rechtslage des inklusiven Unterrichts. Es kommt nach den Jahrzehnten des Wartens jetzt nicht auf ein weiteres Jahr an, die vorliegenden Entwürfe nochmals zu überarbeiten, zumal gerade in der GEW auch jede Art von Kompetenz vorhanden ist. Wir hätten uns gewünscht, als Bildungsgewerkschaft mit unserer Expertise für alle Schularten im Vorfeld eingebunden zu werden. Denn wir stellen fest, dass die vorgelegten Entwürfe unklar in der Ausrichtung und Zielsetzung bleiben, eine unübersichtliche Vielzahl an zum Teil komplizierten Verfahrensregelungen enthalten, die für die Schulen als Adressaten oft nur mit viel Mühe verstehbar sind. Wir fordern, dass die Verfahrensweisen als Grundlage für eine gelingende Umsetzung an den Schulen erheblich klarer und eindeutiger geregelt werden.
Für eine Verordnung, die von uns unterstützt werden kann, fordern wir eine grundsätzliche Überarbeitung vor allem in den folgenden Punkten:
- Zu den Begriffen der Behinderung, des sonderpädagogischen Förderbedarfs etc.
Wir kritisieren, dass in den vorgelegten Entwurfsfassungen der beiden rheinland-pfälzischen Verordnungen inklusiver Unterricht auf den Unterricht von Schüler:innen mit und ohne Behinderung beschränkt wird und teilweise sogar mit zieldifferentem Unterricht gleichgesetzt wird. Deshalb bekräftigen wir erneut unsere langjährige Forderung, dass im rheinland-pfälzischen Schulsystem statt des engen Inklusionsbegriffs das weite Inklusionsverständnis im Sinne von Diversität und Schule der Vielfalt zugrunde gelegt wird. Hierzu verweisen wir auf den Landesaktionsplan des Jahres 2020 zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, in dem Frau Ministerpräsidentin Dreyer in ihrem Grußwort verdeutlicht: „Wir sprechen immer von größtmöglicher Teilhabe an der Gesellschaft für Menschen mit Behinderungen und Inklusion. Doch warum müssen wir dies in der heutigen Zeit noch immer extra betonen? Das Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft ist eine Selbstverständlichkeit und steht jedermann zu.” Die GEW Rheinland-Pfalz fordert die Umsetzung dieser Grundhaltung, die alle Schülerinnen und Schüler in den Blick nimmt, damit mit den vorgelegten Verordnungen eine etikettierende Einteilung in die Kategorien mit und ohne Behinderung überwunden wird.
Hierzu beziehen wir uns auch auf die im Verordnungsentwurf enthaltenen Erläuterungen zu den Bestimmungen: „Im Mittelpunkt steht schulische Teilhabe der Schülerinnen und Schüler, die durch individuelle Förderung einschließlich sonderpädagogischer Maßnahmen ermöglicht wird und damit als gemeinsame Aufgabe aller Lehrkräfte definiert ist.“ Nach unserer Auffassung ist dieser Auftrag für alle Schülerinnen und Schüler zu erfüllen.
Im rheinland-pfälzischen Schulgesetz sind seit 2014, also bereits seit 9 Jahren, die unterstützenden Aufgaben der Förderschulen in § 10 Abs. 1 und 10 über den engen Begriff der „Behinderung“ hinaus festgelegt: „sonderpädagogische Förderung durch Prävention und integrierte Fördermaßnahmen“ (§ 10 Abs. 1 Satz 2 SchulG) sowie „Förderschulen unterstützen und begleiten Schülerinnen und Schüler, bei denen die Schulbehörde sonderpädagogischen Förderbedarf festgestellt hat und deren Eltern diesen Förderort wählen, in ihrer schulischen Bildung.“ (§ 10 Abs. 10 Satz 1 SchulG) sowie „Förderschulen unterstützen Unterricht und Erziehung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen oder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an anderen Schularten unter sonderpädagogischen Gesichtspunkten.“ (§ 10 Abs. 10 Satz 9 SchulG). Dies verdeutlicht, dass die sonderpädagogische Förderung seit 2014 nicht unter dem engen Begriff der „Behinderung“ gefasst ist. Deshalb fordern wir, die vorgesehene Verengung in der dem Gesetz nachgeordneten Inklusionsverordnung unbedingt aufzugeben und den weiten Inklusionsbegriff zugrunde zu legen.
Auch in der Übergreifenden Schulordnung und in der Grundschulordnung sind die Begriffe „Behinderung“ und „Lernstörung“ nebeneinander aufgeführt (§ 33 Abs. 4 GSchO: „Die besonderen Belange behinderter Schülerinnen und Schüler sind zu berücksichtigen, insbesondere sind ihnen die zum Ausgleich ihrer Behinderung erforderlichen Arbeitserleichterungen zu gewähren. Satz 1 kann auch für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Lernstörungen entsprechend angewandt werden.“ sowie § 50 Abs. 4 ÜSchO: „Die besonderen Belange behinderter Schülerinnen und Schüler sind zu berücksichtigen, insbesondere sind ihnen die zum Ausgleich ihrer Behinderung erforderlichen Arbeitserleichterungen zu gewähren. Satz 1 kann auch für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Lernstörungen entsprechend angewandt werden.“)
Somit fordern wir die sprachliche Überarbeitung der Inklusionsverordnung und die Ersetzung der Formulierung „Schülerinnen und Schülern mit Behinderung“ durch „alle Schülerinnen und Schüler” oder „alle Schülerinnen und Schüler mit besonderem Unterstützungsbedarf“ oder „alle Schülerinnen und Schüler mit besonderem Unterstützungsbedarf mit und ohne Behinderung“.
Auch wenn die Absicht besteht, den Behindertenbegriff als offenen, an der Teilhabe orientierten Begriff zu verstehen, wird er für Schülerinnen und Schüler ohne Behinderung nach dem Sozialgesetzbuch als stigmatisierend, ausgrenzend und als negative und nicht zutreffende Zuschreibung von außen wahrgenommen. Bereits 2001, also vor 22 Jahren, wurde aus diesem Grunde der Begriff „Lernbehinderung“ im Schulgesetz durch den „Förderschwerpunkt Lernen“ ersetzt.
Deshalb kritisieren wir vor allem, dass bei dem in der Entwurfsfassung verwendeten Begriff „Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen“ mehrheitlich „Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt Lernen“ sowie „Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung“ gemeint sind. Für die Schülerinnen und Schüler im Schwerpunkt Lernen, die den größten Anteil an den Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ausmachen, trifft der Begriff der „Behinderung“ nach Sozialgesetzbuch i.d.R. überhaupt nicht zu und für die Schülerinnen und Schüler im Schwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung eher selten. Diese Kinder und Jugendlichen über die rheinland-pfälzische Inklusionsverordnung als Menschen mit Behinderung zu etikettieren, halten wir für eine Stigmatisierung, die obendrein noch unzutreffend ist. Die Beeinträchtigung insbesondere der Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt Lernen ist eine allein auf den Schulbesuch der Primar- und Sekundarstufe I beschränkte defizitäre Zuweisung, die außerhalb des deutschsprachigen Raums in den Schulsystemen der Welt überhaupt nicht existiert.
Wir fordern deshalb die Verwendung sachlich korrekter Bezeichnungen auch für diese Schülerinnen und Schüler. Die pädagogische Relevanz des besonderen Unterstützungsbedarfs muss im Vordergrund stehen, Pathologisierungen sind abzulehnen.
Ähnliches gilt auch für Schülerinnen und Schüler mit sog. Teilleistungsstörungen (gemäß der VVen „Förderung von Kindern mit Lernschwierigkeiten und Lernstörungen in der Grundschule“ und „Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben“).
- Zur sonderpädagogischen Gutachtenerstellung statt einer pauschalierten Personalzuweisung
Die GEW Rheinland-Pfalz fordert seit Jahren die pauschalierte und für die Schulen verlässliche Zuweisung von zusätzlichem sonderpädagogischem Personal zur sonderpädagogischen Unterstützung anstelle der sonderpädagogischen Gutachtenerstellung zu ausgewählten Förderschwerpunkten. Deshalb kritisieren wir, dass Rheinland-Pfalz mit der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs in Verbindung mit der Zuweisungsentscheidung der Schulbehörde unvermindert am System der defizitorientierten Ressourcenzuweisung auf der Grundlage der Etikettierung der betroffenen Schülerinnen und Schüler festhalten möchte.
Dass eine Gutachtenerstellung für einige Klassenstufen nur noch in seltenen Ausnahmefällen möglich sein wird, könnte ein Schritt in die von uns gewünschte Richtung sein, sofern das für präventive (sonder-)pädagogische Arbeit notwendige Personal im Schulsystem vorhanden wäre. Grundsätzlich begrüßen wir es, die Anzahl der Gutachten zu reduzieren und Schülerinnen und Schüler so selten und so spät wie möglich zu etikettieren. Allerdings ist die Ursache der derzeitigen Etikettierungspraxis an unseren Schulen offenkundig: Die von der GEW Rheinland-Pfalz seit vielen Jahren geforderte notwendige personelle Ausstattung für die präventive Arbeit wird nicht gewährt und wegen des Fachkräftemangels sogar kontinuierlich abgebaut. Deshalb stecken wir nach wie vor in dem von der Wissenschaft beschriebenen Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma, welches sowohl für die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler, aber insbesondere auch für das gesamte Schulsystem negative Folgen hat und Schritte hin zu einem inklusiven Schulsystem erschwert, wenn nicht gar verhindert.
Wenn das Land Rheinland-Pfalz die UN-BRK ernst nimmt, muss es auch ein nachvollziehbares Bemühen zeigen, dieses Dilemma zu überwinden. Schulen dürfen künftig nicht mehr in die Situation gebracht werden, Schülerinnen und Schüler zu melden, damit ihnen für eine gute pädagogische Arbeit die personellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
Deshalb fordert die GEW erneut die Ausstattung der rheinland-pfälzischen Schulen mit dem für eine gelingende Prävention notwendigen Personal.
Das benachbarte Saarland hat offenkundig eine solche Regelung realisiert. Denn in der KMK-Veröffentlichung „Sonderpädagogische Förderung in allgemeinen Schulen (ohne Förderschulen) 2021/2022 (vom 08.12.2022)“ ist in den „Fußnoten 2021“ zum Saarland festgehalten: „Seit dem Schuljahr 2015/16 ist die Anerkennung von sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen nur noch bei Umschulung an eine Förderschule erforderlich. Dementsprechend ist eine quantitative Erfassung der in Frage kommenden Schüler/-innen an den Regelschulen nicht möglich.“
Die GEW Rheinland-Pfalz ist überrascht, dass in den §§ 22 - 29 an der Komplexität und Kompliziertheit des Verfahrens der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs weiterhin festgehalten werden soll (siehe dazu unsere untenstehenden Ausführungen).
Das aktuelle Verfahren der Gutachtenerstellung durch Förderschullehrkräfte kostet erhebliche personelle Ressourcen, die für den Unterricht und die pädagogische Arbeit an den Schulen dringend benötigt werden. Deshalb sollten neue Verfahrensregelungen entwickelt werden, die zweckdienlich sind und insbesondere für die Gutachtenerstellung durch die Beschränkung auf die erforderlichen Inhalte erheblich weniger Förderschullehrkräfte-Wochenstunden als bisher binden.
- Zum schulischen Präventionsauftrag
Bei der Umsetzung der neuen Verordnungen ist mit einem Rückgang der Anträge auf Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs durch die Verengung des Zeitraums möglicher Antragsstellungen zu rechnen (Wegfall der Überprüfungen in den Klassenstufen 1 und 5).
Zur Umsetzung des präventiven Auftrags der Schulen wird gleichzeitig die Unterstützung (einschließlich Beratung) der Schulen durch die Förder- und Beratungszentren (FBZ) im Verordnungsentwurf vorgesehen.
Dies kann nur dann ein stimmiges Konzept darstellen, wenn zukünftig tatsächlich sichergestellt wird, dass die benötigten personellen Ressourcen für die präventive Arbeit an den allgemeinen Schulen auch zur Verfügung gestellt werden, und dies sowohl durch die notwendige sonderpädagogische Ausstattung der FBZ als auch durch eine gute allgemeinpädagogische Grundversorgung der Schulen.
- Zu den Kosten
Die GEW Rheinland-Pfalz kritisiert vehement, dass in den Vorbemerkungen zu den Verordnungsentwürfen im Teil „D. Kosten“ formuliert wurde: „Durch die Schulordnungen selbst entstehen keine Kosten; bei einer Ausweitung des inklusiven Unterrichts können Personalkosten für das Land entstehen. Diese stehen unter dem Vorbehalt künftiger Haushaltsaufstellungen und können durch bestehende Stellenpläne und Budgets gedeckt werden.“
Diese Ausführungen lassen große Zweifel am ernsten Willen des Verordnungsgebers zur erfolgreichen Umsetzung der Inklusion entstehen, wenn die personelle Ausstattung unter den Vorbehalt künftiger Haushaltsaufstellungen gestellt ist und Mehrkosten, die die Einstellung des erforderlichen Personals erzeugt, nicht benannt werden.
Die GEW fordert deshalb eindringlich, das rheinland-pfälzische Schulsystem personell so auszustatten, dass der gesetzliche Bildungs- und Erziehungsauftrag sowie der inklusive Unterricht und die individuelle Förderung tatsächlich umgesetzt werden können. Aktuell ist das Gegenteil der Fall: Zurzeit fehlen an sehr vielen Schulen die ausgebildeten Lehrkräfte, um überhaupt die Unterrichtsversorgung sicherstellen zu können. Der seit Jahren vorhandene und nun sich massiv verstärkende gravierende Mangel an Förderschullehrkräften lässt die Umsetzung des inklusiven Unterrichts an vielen Schulen immer mehr zum Wunschdenken werden. Lehrkräfte an allgemeinen Schulen sind ohne sonderpädagogische Unterstützung und ohne eigene erworbene Expertise allein gelassen, werden überfordert und frustriert, während vielen Schülerinnen und Schülern die notwendige Unterstützung nicht erteilt werden kann.
Die drei Systeme der Förderschulen, der Schwerpunktschulen (inklusiven Schulen) und der Förder- und Beratungszentren sind unabhängig voneinander personell gut auszustatten. Nur auf dieser Grundlage kann die Umsetzung des inklusiven Unterrichts gelingen.
- Zu den Aufgaben und der personellen Ausstattung der Förder- und Beratungszentren (FBZ)
Insbesondere die zur Unterstützung eingerichteten Förder- und Beratungszentren benötigen dringend die dazu notwendigen Förderschullehrkräfte. Die aktuelle Praxis, die Lehrkräfte in den FBZ für den Unterricht an den Förderschulen einzusetzen, wenn für die Erteilung des dortigen Unterrichts nicht genügend ausgebildete Förderschullehrkräfte und Pädagogische Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind, muss beendet werden. Auch der temporäre Abzug aus den FBZ für Vertretungsunterricht bei Krankheitswellen muss unterbunden werden.
Mit dem Verordnungsentwurf werden den im Schulgesetz verankerten Förder- und Beratungszentren erstmals umfangreiche Aufgaben per Rechtsverordnung zugewiesen. Dies sind im einzelnen (die Aufgabenbeschreibungen sind wörtlich übernommen):-
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- Organisation von speziell ausgerichteten Unterrichtsangeboten in Form von zeitlich befristeten Kursen oder als schulübergreifender Unterricht (§ 4 Abs. 5),
- Mitwirkung bei der Beratung der Eltern durch die Schule (§ 10),
- Beteiligung in Form der Benehmensherstellung bei Entscheidung über Anträge auf Zurückstellung vom Schulbesuch (§ 11),
- sonderpädagogische Beratung und Unterstützung (§ 14),
- Beteiligung bei den Verfahren des Nachteilsausgleichs (§ 18 Abs. 2),
- Einleitung des Verfahrens der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung (§ 23 Abs. 5),
- Einleitung des Verfahrens der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen ab Klassenstufe 7 (§ 23 Abs. 7),
- Teilnahme an Fallkonferenzen zum Förderschwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung (§ 24 Abs. 3),
- Unterstützung bei der individuellen Förderplanung zum Förderschwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung, wenn das Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs durch die Schulbehörde beendet wird (§ 24 Abs. 4),
- Beauftragung bei behinderungsbedingtem Unterstützungsbedarf durch die Schulbehörde, wenn kein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wird (§ 28 Abs. 5),
- ggf. Unterstützung im Rahmen der Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit nicht ausreichenden Deutschkenntnissen (§ 29 Abs 4).
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Für diese Vielzahl der Aufgaben des FBZ sind zusätzliche personelle Ressourcen unverzichtbar. Wir fordern, dass die notwendigen Ressourcen landesweit erhoben und verlässlich zugewiesen werden. Nur so kann ein Konzept der Förder- und Beratungszentren entstehen, das eine Unterstützung der schulischen Inklusion in Rheinland-Pfalz darstellt.
Dazu ist die Arbeitszeit für die Tätigkeit im FBZ landesweit einheitlich zu regeln.
Dass ein Großteil der oben aufgeführten Aufgaben im Rahmen unterschiedlichster Verwaltungsverfahren zu erbringen ist, macht uns skeptisch hinsichtlich der tatsächlichen Unterstützungsleistungen für den Unterricht und die Förderung in den allgemeinen Schulen. Lediglich die in § 14 aufgeführten Aufgabenbereiche können als direkte Unterstützung und Beratung von den Schulen angefragt werden und gerade sie sind mit einem Ressourcenvorbehalt versehen, den wir vehement ablehnen (siehe unsere Anmerkungen zu § 14).
Die FBZ zu einem großen Anteil zum Funktionieren eines extrem komplizierten und komplexen Verwaltungsapparats der sonderpädagogischen Förderung in Rheinland-Pfalz einzusetzen, halten wir für verfehlt. Wir fordern deshalb, dass der Schwerpunkt der Aufgaben des FBZ auf die Prävention gelegt wird.
Die GEW Rheinland-Pfalz fordert, dass gemäß den Regelungen des rheinland-pfälzischen Landesgesetzes zur Stärkung der inklusiven Kompetenz und der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften (IKFWBLehrG) für alle Lehrkräfte im FBZ, die in der Beratung und Unterstützung eingesetzt sind, eine Qualifizierung und kontinuierliche Begleitung durch das Pädagogische Landesinstitut (PL) eingerichtet wird.
- Zu den Begriffen „inklusive Schule“ und „Schwerpunktschule“
Wir kritisieren außerdem, dass der Besuch der wohnortnahen Schule für Kinder und Jugendliche mit besonderem Unterstützungsbedarf im zieldifferenten Unterricht nur dann möglich sein soll, wenn diese zufällig auch die zugewiesene Schwerpunktschule ist oder wenn die Schulbehörde den zieldifferenten inklusiven Unterricht an dieser Schule genehmigt. Diese Praxis ist entmündigend und nicht im Sinne der UN-BRK. Sie macht die betroffenen Schülerinnen und Schüler sowie ihre Familien weiterhin zu Objekten von Verwaltungsentscheidungen.
Wir fordern deshalb die Ausweitung des zieldifferenten inklusiven Unterrichts auf alle allgemeinen Schulen. (siehe auch unsere Ausführungen zu § 28 Abs. 4)
- Zu den Förderschwerpunkten Lernen und ganzheitliche Entwicklung
Die in § 15 Abs. 7 und 8 aus dem ICF-System der WHO entnommene Terminologie für die Ausrichtung der Förderschwerpunkte L und G wird von uns grundlegend abgelehnt. Denn das medizinisch orientierte ICF-System klassifiziert Folgen von Krankheiten und ist die Grundlage für Entscheidungen über individuelle Rehabilitationsmaßnahmen und gesundheitspolitische Maßnahmen, wobei ein Gesundheitsproblem – eine Gesundheitsstörung oder Krankheit – im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Deshalb kann diese Terminologie keine geeignete Grundlage für das (sonder-)pädagogische Handeln in einer auf humane Bildung ausgerichteten Schule sein (siehe unsere Ausführungen zum § 15 sowie die Anlage zu unserer Stellungnahme).
Wir fordern stattdessen eine ganzheitliche und kompetenzorientierte Ausrichtung auf individuelle Bildung, Erziehung und Unterstützung mit dem Ziel größtmöglicher Aktivität und Teilhabe (siehe unsere Ausführungen zu § 15 Abs. 7 und 8).
Gleichermaßen fordern wir, dass diese Terminologie des ICF-Systems auch nicht in die Verfahrensregelungen der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs aufgenommen wird (siehe unsere Ausführungen zu § 27). - Zum Förderschwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung
In den beiden KMK-Veröffentlichungen „Sonderpädagogische Förderung in Förderschulen 2021/2022“ sowie „Sonderpädagogische Förderung in allgemeinen Schulen (ohne Förderschulen) 2021/2022“ (beide vom 08.12.2022) ist der Anteil der der Schülerinnen und Schüler in diesem Förderschwerpunkt bundesweit statistisch festgehalten.
Daraus ist folgendes ersichtlich: Bundesweit sind 13,3 Prozent der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen dem Schwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung zugeordnet, wobei es in Rheinland-Pfalz 6,25 Prozent der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen sind. Weiterhin sind bundesweit 23 Prozent der Schülerinnen und Schüler in allgemeinen Schulen dem Schwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung zugeordnet, wobei es in Rheinland-Pfalz 2,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler an allgemeinen Schulen sind.
In der KMK-Statistik „Dokumentation Nr. 231 vom Januar 2022 – Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2011 bis 2020“. Im Jahr 2020 verteilten sich die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Förder- und allgemeinen Schulen bundesweit mit folgenden Anteilen auf die vier häufigsten Förderschwerpunkte: Lernen 39,2 %, emotionale und soziale Entwicklung 17,8 %, geistige Entwicklung 17,2 % sowie Sprache 10,2 % (siehe KMK, Seite XVI). Schülerinnen und Schüler mit Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung werden bundesweit zu 57,43 % in allgemeinen Schulen unterrichtet und zu 42,57 % in Förderschulen (siehe KMK, Seite XXII).
Dies belegt, dass die Praxis der Feststellung des Förderbedarfs sozial-emotionale Entwicklung in Rheinland-Pfalz ganz erheblich unter dem Bundesdurchschnitt liegt, da dieser Förderbedarf in unserem Bundesland nur im Zusammenhang mit Erziehungs- bzw. Jugendhilfemaßnahmen gewährt wird. Die GEW fordert, dass diese Hürden nicht in die Neufassung der Inklusionsverordnung aufgenommen werden (siehe unten zu § 23 Abs. 5).
Es ist offenkundig, dass sowohl die betroffenen Schülerinnen und Schüler als auch die Schulen erheblich mehr Unterstützung benötigen. Eine Alternative zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs sieht die GEW in der Einführung eines tragfähigen Unterstützungskonzepts der allgemeinen Schulen, die den Betroffenen schnelle Hilfen mit geringen bürokratischen Hürden sichern. Im „Landesaktionsplan Rheinland-Pfalz zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ sind im Bereich Bildung als Maßnahme des Bildungsministeriums ab 2020 bis 2025 formuliert: „Entwicklung und Pilotierung eines Unterstützungsangebots zur individuellen Förderung bei herausforderndem Verhalten von Schülerinnen und Schülern in der Primarstufe und der Sekundarstufe I durch Förder- und Beratungszentren.“ (Aktionsplan Seite 22). Wir fordern, dass diese schriftlich festgelegte Maßnahme umgesetzt wird. (siehe unsere Ausführungen zu § 23 Abs. 5)
Die Forderungen der GEW Rheinland-Pfalz zu den vorgesehenen Regelungen im Einzelnen:
§ 5
Die GEW kritisiert vehement, dass unter § 5 mit dem Oberbegriff „Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen“ alle Schülerinnen und Schüler aufgeführt werden, die eine Behinderung haben, die (sonder-)pädagogischen Unterstützungsbedarf mit oder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf haben, die Beeinträchtigungen, Lernstörungen, chronische Erkrankungen und anderes haben. Wir fordern den Behindertenbegriff nicht all diesen Schülerinnen und Schülern zuzuweisen. Dass dies ggf. juristisch notwendig sein könnte, können wir für die Umsetzung der Inklusion in einer humanen und pädagogisch ausgerichteten Schule der Vielfalt, die sprachsensibel agiert und subjekt- und stärkenorientiert ausgerichtet ist, nicht gelten lassen (siehe unsere obigen grundsätzlichen Ausführungen zum Behindertenbegriff).
Konkret kritisieren wir die im Entwurf aus unserer Sicht für die pädagogische Arbeit der Lehrkräfte und die inklusiven Prozesse nicht hilfreiche vorgesehene Aufteilung der Schülerinnen und Schüler in die folgenden Gruppen: Schüler:innen mit Behinderung mit sonderpädagogischem Förderbedarf in § 5 Abs. 1, Schüler:innen mit Behinderung ohne sonderpädagogischem Förderbedarf in § 5 Abs. 2, Schüler:innen ohne Behinderung mit sonderpädagogischem Förderbedarf in § 5 Abs. 1 und 2 sowie Schüler:innen ohne Behinderung und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in § 5 Abs. 2.
Die vorgesehene Landesverordnung richtet sich an die Lehrkräfte der allgemeinen Schulen sowie an die Schülerinnen und Schüler und deren Sorgeberechtigte. Die GEW kritisiert, dass mit diesen auf eng umgrenzte Gruppen bezogenen unklaren Begrifflichkeiten Hürden entstehen, die den Austausch über individuelle Bedarfe, Hindernisse und Unterstützung in der pädagogischen Arbeit erschweren und zu Unsicherheiten und Verwirrung führen.
§ 7
Die vorgesehenen Regelungen zur individuellen Förderplanung sind dringend an die aktuellen auf dem Bildungsserver veröffentlichten Verfahrensweisen anzupassen:
„Grundsätzlich kann für alle Schülerinnen und Schüler ein individueller Förderplan erstellt werden. Dies ist unabhängig von einem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf.
Für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten und Lernstörungen sowie festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf muss ein individueller Förderplan erstellt werden. Dies gilt auch für die Schülerinnen und Schüler, bei denen sonderpädagogischer Förderbedarf vermutet wird. Für diese Schülerinnen und Schüler wird präventiv ein Förderplan erstellt.
Zur Erstellung eines Förderplanes sind alle an der schulischen Bildung der Schülerin bzw. des Schülers beteiligten Personen verpflichtet. Diese Personen sind für die Erstellung, Umsetzung, Evaluation und Fortschreibung des Förderplanes verantwortlich.“
In § 7 Abs. 3 Satz 2 beantragen wir die Streichung der Worte „in altersangemessener Form“, zumal die individuelle Einbindung der Schülerin/des Schülers nicht nur altersabhängig ist, sowie die Ersetzung der treffenderen Formulierung „einzubeziehen“ durch „zu beteiligen“ oder „grundsätzlich zu beteiligen“.
Die Festlegung des mindestens halbjährlichen Erstellens und Fortschreibens eines Förderplans wird von uns begrüßt, weil dadurch in der Praxis mehr Handlungssicherheit entsteht.
§ 8 Überschrift sowie Abs. 1
Zur größeren Handlungssicherheit an den Schulen beantragen wir den Begriff „Eltern mit Behinderungen“ durch „Eltern mit besonderem Unterstützungsbedarf mit und ohne Behinderung“ zu ersetzen.
Außerdem beantragen wir die Aufnahme einer zusätzlichen Ziffer 4 mit folgender Formulierung: „Eltern mit sprachlichen Barrieren sollen bei Bedarf die sie betreffenden amtlichen Informationen in einfacher und verständlicher Weise erläutert werden.“
Die GEW fordert zudem die Übertragung dieses Paragraphen in den Abschnitt 3 – Eltern und Schule der FöSchO als neuen Paragraphen 14. Gerade an Förderschulen ist eine Unterstützung der Elternschaft dringend geboten.
§ 11 Abs. 3
Hier wird in Satz 1 geregelt, dass die Schulbehörde nach Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und nach Entscheidung der Eltern für eine Schule mit inklusivem Unterricht oder eine Förderschule die konkret zu besuchende Schule festlegt. Dies gilt nur für die Förderschwerpunkte Lernen und ganzheitliche Entwicklung, was faktisch bedeutet, dass Schülerinnen und Schüler mit diesem Förderstatus nicht die gleichen Wahlmöglichkeiten haben wie ihre Mitschüler:innen und ihnen u.U. der Zugang zur Schule des Wohnorts verwehrt bleibt. Dies widerspricht dem in den „KMK-Empfehlungen zur Arbeit in der Grundschule“ festgelegten Grundsatz der Grundschule als Ort gemeinsamen Lernens (Ziffer 1.1) sowie dem Auftrag des inklusiven Unterrichts (Ziffer 1.3: „Die Grundschule als Schule für alle Kinder gestaltet Unterricht und Schulleben so, dass jedes Kind ungeachtet seiner Herkunft und Leistungsfähigkeit gemeinsam mit den anderen leben und lernen kann. … In einer qualitativen Weiterentwicklung des integrativen Unterrichts und der individuellen Förderung realisiert Grundschule inklusive Bildung. Sie ermöglicht allen Schülerinnen und Schülern unabhängig von ihrer sozialen, emotionalen, körperlichen und kognitiven Entwicklung eine weitgehend gleichberechtigte Partizipation an Schulleben und Unterricht und evaluiert regelmäßig den Prozess.“)
Auch für den Besuch einer weiterführenden Schule ist – im Sinne des Normalisierungsprinzips – dem Elternwahlrecht, Vorrang einzuräumen.
Deshalb fordert die GEW Rheinland-Pfalz, dass die Eltern aller Schülerinnen und Schüler die gleichen Wahlmöglichkeiten haben.
Ebenso ist eine unabhängige Beratung zum Förderort dringend anzubieten.
§ 11 Abs. 4
Entsprechend unseren obigen Ausführungen zu den Begrifflichkeiten fordern wir die Änderung der Formulierung: „Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf, die in der Grundschule inklusiv unterrichtet wurden“ zu ersetzen durch „Schülerinnen und Schüler, die in den Bildungsgängen Lernen und ganzheitliche Entwicklung unterrichtet wurden“, da inklusiv unterrichtet nicht synonym mit zieldifferent verwendet werden kann.
§§ 13-15 (Abschnitt 5 Unterabschnitt 1)
Die unter dem Begriff „sonderpädagogische Maßnahmen“ vorgenommenen Erläuterungen sowie die Unterteilung des Unterrichts und der schulischen Unterstützung und Beratung in die Bereiche „sonderpädagogische Bildungsangebote“, „sonderpädagogische Beratungs- und Unterstützungsangebote“ bzw. „sonderpädagogische Beratung und Unterstützung“ halten wir für verwirrend und wenig nachvollziehbar.
Da der im Schulgesetz festgeschriebene Bildungsanspruch für alle Schülerinnen und Schüler gilt, halten wir den Begriff „Angebote“ grundsätzlich für nicht zutreffend und irreführend. Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen und/oder festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf haben ein Recht auf Bildung, das die Schulen durch angemessene Vorkehrungen gemäß UN-Behindertenrechtskonvention sicherzustellen haben. Auch Unterstützung und Beratung zielt auf Bildung der Schülerinnen und Schüler ab und ist nicht davon abzugrenzen. Diese Terminologien in Verbindung mit zugeordneten Gruppen von Schülerinnen und Schülern ist aus unserer Sicht ungeeignet für die Umsetzung und pädagogische Ausgestaltung an den Schulen und deshalb grundlegend umzuformulieren.
Insbesondere beantragen wir die durchgängige Streichung des Begriffs „Angebote“.
§ 13
Die Eingrenzung in Absatz 1 auf „Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen“ ist nach unserer Überzeugung umzuformulieren in „Schülerinnen und Schüler mit besonderem Unterstützungsbedarf“. Die in den Absätzen 2 und 3 genannten „Angebote“ sind im Sinne eines Rechts auf individuelle Förderung und Unterstützung entsprechend umzuformulieren.
§ 14 Abs. 1
Auch hier fordern wir – neben der Ausweitung auf „Schülerinnen und Schüler mit besonderem Unterstützungsbedarf“ – die „sonderpädagogische Beratung und Unterstützung“ nicht als „Angebote“ aufzuführen, sondern als Leistungen im Rahmen des Rechts auf Bildung, die allen Schülerinnen und Schülern offenstehen.
Außerdem fordern wir die Streichung des Ressourcenvorbehalts „im Rahmen der personellen Ressourcen“ an den Förder- und Beratungszentren, um die Umsetzung des Rechts auf Bildung durch „angemessene Vorkehrungen“ gemäß UN-BRK tatsächlich auch zu gewähren. Auch die der Entwurfsfassung beigefügten Ausführungen zu dieser Bestimmung sind widersprüchlich formuliert, indem ausgeführt wird, dass die Beratung und Unterstützung durch FBZ „nachfrage- und bedarfsorientiert“ erfolge, dies allerdings unter Ressourcenvorbehalt stehe.
§ 15
Wir beantragen, den Begriff „Bildungsangebote“ in der Überschrift und den Absätzen zu ändern (siehe unsere obigen Ausführungen unter …) und zumindest das Wort „Angebote“ durch „Maßnahmen“ zu ersetzen.
Wir weisen darauf hin, dass die aufgeführten Maßnahmen Pflichtaufgaben zur Sicherung des Rechts auf Bildung und Teilhabe darstellen und nicht nur Angebote sein dürfen.
§ 15 Abs. 5
Für den Förderschwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung fordern wir die Erweiterung der Aufzählung der möglichen Bildungsgänge um den qualifizierten Sekundarabschluss I, wie dies für die Förderschwerpunkte motorische Entwicklung, Sehen und Hören (Abs. 2, 4 und 6) aufgeführt ist. In allen vier Förderschwerpunkten können Schülerinnen und Schüler den Bildungsgang Berufsreife besuchen und im Anschluss in drei Förderschwerpunkten auch den qualifizierten Sekundarabschluss I absolvieren. Dies beantragen wir gleichermaßen für den Förderschwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung, denn auch dort soll Schülerinnen und Schülern nach Abschluss des Bildungsgangs Berufsreife dieser Bildungsweg offen stehen.
§ 15 Abs. 7 und 8
In Abs. 7 und 8 wird die Ausrichtung der sonderpädagogischen Bildungsmaßnahmen für die Förderschwerpunkte ganzheitliche Entwicklung und Lernen mit folgender Terminologie beschrieben: „ganzheitlich auf Aktivität und Teilhabe ausgerichtet“ (Abs. 7) für den Förderschwerpunkt ganzheitliche Entwicklung und „auf Lernen und Wissensanwendung … ausgerichtet“ (Abs. 8) für den Förderschwerpunkt Lernen.
Beide Formulierungen werden von der GEW abgelehnt, da diese Begrifflichkeiten der medizinisch ausgerichteten Kategorisierung des ICF der WHO entstammen, die nach unserer Überzeugung für die pädagogische schulische Arbeit grundsätzlich ungeeignet ist.
Unsere ausführlichen Begründungen belegen wir mit der Funktion und der Struktur der ICF-Klassifikation, die wir in der Anlage (ICF-System) zu unserer Stellungnahme zusammengestellt haben und die Auszüge aus der Internetseite des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, der Internetseite „REHADAT – ICF-LOTSE“, den Checklisten für die ICF-CY für Kinder und Jugendliche und dem Bundesteilhabegesetz enthalten.
„Während die ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) Krankheiten klassifiziert, klassifiziert die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) die Folgen von Krankheiten in Bezug auf Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe. (…) Zusammen liefern sie ein umfassendes Bild von der Gesundheit eines Menschen oder einer Population. Damit schaffen sie eine Grundlage für Entscheidungen über individuelle Rehabilitationsmaßnahmen oder über gesundheitspolitische Maßnahmen." (aus Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, siehe Anlage)
Ausgangspunkt ist ein „Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit)“ (aus Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, siehe Anlage).
Auch durch die auf der Internetseite REHADAT – ICF-LOTSE (siehe Anlage) veröffentlichte Klassifikationsstruktur mit 4 ICF-Komponenten und weiteren Untergliederungen auf verschiedenen Ebenen wird deutlich, dass das ICF-System Menschen nach einer unübersichtlichen und sehr hohen Anzahl an Kriterien klassifiziert und Einzelteile des Menschen betrachtet. Dieses System verhindert nach unserer Überzeugung den ganzheitlichen Blick auf die Schülerin/den Schüler.
Auf der Internetseite der deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin werden Checklisten für den inzwischen von der WHO herausgegebenen ICF-CY für Kinder und Jugendliche zur Verfügung gestellt (siehe Anlage). Diese wurden von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe erstellt, die „es sich zur Aufgabe gemacht (hat) die ICF-CY besser handhabbar zu gestalten“. Auch dies ist ein sehr kompliziertes medizinisches und auf Behinderung und Krankheit ausgerichtetes System.
Die GEW lehnt es ab, dass dieses System der Klassifikation der Folgen von Krankheiten und der menschlichen Gesundheit durch die Übernahme einzelner Begrifflichkeiten in die rheinland-pfälzischen schulischen Verordnungen aufgenommen wird, da dieses System nach unserer Überzeugung keine Grundlage für (sonder-)pädagogisches Handeln in einer auf humane Bildung ausgerichteten Schule sein kann.
Zu den in den Absätzen 7 und 8 für die beiden Förderschwerpunkte verwendeten Begriffen möchten wir anmerken, dass sich diese in zwei verschiedenen Ebenen des ICF-Systems befinden: Eine der 4 ICF-Komponenten von Gesundheit lautet „Aktivität und Partizipation“ und diese wiederum enthält 9 Unterklassifikationen, wovon eine „Lernen und Wissensanwendung“ ist. Demnach ist gemäß dem ICF-System „Lernen und Wissensanwendung“ ein Teilbereich von „Aktivität und Partizipation“. Dies entspricht auch dem Aufbau des § 18 des Bundesteilhabegesetzes (siehe Anhang). Dass diese beiden Terminologien nun jeweils nur einem Förderschwerpunkt zugeordnet werden, ist uns unverständlich.
Das Wort „Wissensanwendung“ ist aus unserer Sicht nur eine der Dimensionen der Kompetenzorientierung, die in den „KMK-Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt LERNEN“ von 2019 zugrunde gelegt wird. Lernen wird als ein ganzheitlicher Prozess verstanden: „Erfolgreiche Lernprozesse vollziehen sich auf der Basis eines gelingenden Zusammenwirkens der Entwicklungsbereiche Motorik und Wahrnehmung, Denken und Aufbau von Lernstrategien, Kommunikation und Sprache sowie Emotionen und soziales Handeln." (Seite 6). Dieses komplexe Verständnis von Lernen wünschen wir uns auch in der rheinland-pfälzischen Verordnung.
Auch für den Förderschwerpunkt ganzheitliche Entwicklung wünschen wir uns eine Orientierung an der KMK. Dazu zitieren wir aus den „Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung“ aus dem Jahr 2021 aus Seite 3: „Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Schwerpunkt Geistige Entwicklung haben an allen schulischen Lernorten einen uneingeschränkten Anspruch auf bestmögliche individuelle Bildung, Erziehung und Unterstützung mit dem Ziel größtmöglicher Aktivität und Teilhabe.“
§ 17
Wir beantragen die Formulierung „Nachteilsausgleich sind alle notwendigen und geeigneten Maßnahmen“ durch die treffendere Formulierung im Landesinklusionsgesetz und in der UN-BRK „Nachteilsausgleich sind alle notwendigen und angemessenen Vorkehrungen“ zu ersetzen.
§ 18 Abs. 3
Beim Nachteilsausgleich beantragen wir die Streichung des Satzes „Die Schule kann die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung verlangen“, damit der Schülerin oder dem Schüler die angemessenen Hilfen zum Ausgleich einer Behinderung unmittelbar zuteil werden. Das pädagogische Handlungsfeld sollte vom medizinischen und auf Gesundheit ausgerichteten ärztlichen Handlungsfeld weitestgehend getrennt bleiben, zumal dadurch auch eine zusätzliche Hürde für die Gewährung entstehen kann. Dementsprechend verdeutlichen die KMK-Empfehlungen „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen“ von 2011 im Abschnitt „Nachteilsausgleich“ die schulische Verantwortung: „Ein Nachteilsausgleich ist stets auf den Einzelfall abzustimmen, da bei gleichen Erscheinungsformen nicht immer gleiche Formen des Nachteilsausgleichs angemessen sind. Die Festlegungen zum Nachteilsausgleich sind für den vereinbarten Zeitraum verbindlich und müssen von allen Lehrkräften im Unterricht berücksichtigt werden. Daher sind die Festlegungen zum Nachteilsausgleich regelmäßig zu dokumentieren, zu prüfen und ggf. anzupassen.“
Abschnitt 6 „Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs“
(§§ 22-29)
Wir verweisen dazu auch auf unsere einleitenden Ausführungen zum Punkt „Zur sonderpädagogischen Gutachtenerstellung statt einer pauschalierten Personalzuweisung“.
Aus unserer Sicht sollten für die zukünftige Praxis Verfahrensweisen entwickelt werden, die zweckdienlich sind und erheblich weniger zeitliche personelle Ressourcen als bisher erfordern.
§ 22 Abs. 1
Zur Beauftragung durch die Schulbehörde in Satz 3 beantragen wir, die Worte „Sie beauftragt Förderschullehrkräfte ...“ zu ersetzen durch „Sie beauftragt die zuständige Förderschule und diese wiederum Förderschullehrkräfte …“, da dies dem korrekten Verfahren entspricht.
Zur Diagnostik in Satz 3 beantragen wir, „sonderpädagogische Diagnostik“ durch „förderpädagogische Diagnostik“ zu ersetzen.
§ 23 Abs. 5
Zur Einleitung des Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs fordern wir in Abs. 5 zu Förderschwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung die Streichung der Nummern 3 und 4. Dass die Einleitung des Feststellungsverfahrens weiterhin nur bei erfolgten Hilfen zur Erziehung bzw. Jugendhilfemaßnahmen ermöglicht werden soll, stellt eine Hürde dar, die dazu führt, dass Unterstützungsleistungen, die bundesweit etabliert sind, in Rheinland-Pfalz auch weiterhin nicht gewährt werden. (siehe unsere obigen grundsätzlichen Ausführungen zum Förderschwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung).
§ 24
Hier halten wir die neu vorgesehene Bezeichnung „Kooperatives Konsultationsgespräch“ für irreführend und nicht zutreffend und fordern deshalb, dass sie durch die Bezeichnung „Pädagogisches Austauschgespräch“ ersetzt wird.
Als Konsultationen werden Beratungen durch Expert:innen und Fachpersonen wie Ärzte und Rechtsanwälte sowie Beratungen bei Kundengesprächen verstanden, die nicht auf Augenhöhe stattfinden. Den vorgesehenen sperrigen Begriff in Beratungen zwischen Lehrkräften einzuführen, schafft eher Distanz statt einer zwischenmenschlichen Vertrauensbasis. Im Englischen hat der deutsche Begriff „Beratung“ die beiden Bedeutungen „consultation“ und „counseling“, wobei letzteres auf Augenhöhe erfolgt. Die Beratungen sollten gemäß der englischen Bezeichnung „counseling“ eingeführt werden, weshalb wir die obige Umbenennung fordern.
§ 27
Auch hier beantragen wir wie zu § 22 Abs. 1, „sonderpädagogische Diagnostik“ durch „förderpädagogische Diagnostik“ zu ersetzen.
§ 27 Abs. 2 und 3
Dazu verweisen wir nochmals auf unsere einleitenden Ausführungen im Punkt „Zur sonderpädagogischen Gutachtenerstellung statt einer pauschalierten Personalzuweisung“ sowie zu § 15 Abs. 7 und 8.
Zu der in Abs. 2 genannten Kind-Umwelt-Analyse der sonderpädagogischen/förderpädagogischen Diagnostik werden in Abs. 3 Vorgaben in Form von 4 Aufzählungen gemacht, die dem ICF-System der WHO für Kinder und Jugendliche (ICF-CY – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderungen und Gesundheit für Kinder und Jugendliche) entstammen, wie dies auch in den Erläuterungen zum Verordnungsentwurf beschrieben ist.
Diese vorgesehene inhaltliche Festschreibung in der Verordnung lehnen wir entschieden ab. Deshalb beantragen wir in Abs. 3 Satz 1 die ersatzlose Streichung der Worte „insbesondere in folgenden Lebensbereichen“ sowie die ersatzlose Streichung der Aufzählung: „1. Lernen und Wissensanwendung, 2. Kommunikation und Konversation, 3. Motorik und Bewegung, 4. interpersonelle Interaktionen und Beziehungen“.
Wir kritisieren, wie bereits unter § 15 ausgeführt, die von Gesundheit und Gesundheitsfolgen ausgehende Kategorisierung des ICF der WHO und halten sie für die pädagogische Arbeit an Schulen und für Diagnostik im Sinne von Förderung für ungeeignet.
Das ICF-System der WHO findet sich auch in einer Auflistung von ICF-Nummern in § 18 des Bundesteilhabegesetzes für Menschen mit Behinderung (siehe Auszug in der Anlage). Der mit „Instrumente der Bedarfsermittlung“ überschriebene Paragraf beinhaltet folgende Regelung: „Der Träger der Eingliederungshilfe hat die Leistungen nach den Kapiteln 3 bis 6 unter Berücksichtigung der Wünsche des Leistungsberechtigten festzustellen. Die Ermittlung des individuellen Bedarfes des Leistungsberechtigten muss durch ein Instrument erfolgen, das sich an der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ orientiert. Das Instrument hat die Beschreibung einer nicht nur vorübergehenden Beeinträchtigung der Aktivität und Teilhabe in den folgenden Lebensbereichen vorzusehen“, wonach eine Aufzählung von 9 Bereichen erfolgt (siehe Anlage). In diesem Gesetz dienen die Klassifikationen dazu, die personellen Zuwendungen und Unterstützungsleistungen der Leistungsträger der Sozialverbände abzuleiten. Der Schulbereich basiert nicht auf einem derartigen Ressourcenberechnungssystem, sondern ist auf individuelle Förderung ausgerichtet.
Wir beantragen, die Inhalte und die Form der Gutachten wie bisher in einer neu zu fassenden nachgeordneten Rechtsvorschrift oder Handreichung zu veröffentlichen. Denn aus unserer Sicht sind Neuregelungen zur Gutachtenerstellung zu treffen, die sich auf die für die pädagogische Arbeit erforderlichen Inhalte beschränken. Wir beantragen, dass diese Vorgaben in einer Fachkommission unter Einbeziehung der Expertisen der ersten und zweiten Phase der Lehrkräftebildung gründlich erarbeitet werden. Denn die Förderdiagnostik und Gutachtenerstellung sind wesentliche Inhalte der Ausbildung von Förderschullehrkräften sowohl an den Universitäten als auch an den Studienseminaren.
Gemäß dem rheinland-pfälzischen „Landesgesetz zur Stärkung der inklusiven Kompetenz und der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften“ (IKFWBLehrG) ist das Land verpflichtet, die Lehrkräfte für ihre Aufgaben aus- und fortzubilden. Wenn mit der Neustrukturierung der Gutachten neue Kriterien eingeführt werden, die nicht mit der bisherigen pädagogischen Ausbildung übereinstimmen, sind alle Förderschullehrkräfte für eine solche neu ausgerichtete und durch Verordnung festgeschriebene Gutachtenerstellung fortzubilden. Auch von den Universitäten und Studienseminaren müssten diese Vorgaben ohne vorherige Beteiligung an einer Neuausrichtung übernommen werden. Auch dies würde weitere Arbeitszeiten von Förderschullehrkräften binden, die für den Unterricht dringend gebraucht werden.
Statt dieser vorgesehenen Neuausrichtung erwarten wir eine Orientierung an den in den „KMK-Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt LERNEN“ enthaltenen pädagogisch ausgerichteten Vorgaben. So ist in „Abschnitt III.1 Sonderpädagogische Diagnostik und Planung individueller sonderpädagogischer Bildungsangebote" festgelegt: „Eine sonderpädagogische Diagnostik bezieht in einer Person-Umfeld-Analyse jene Faktoren mit ein, die maßgebliche Auswirkungen auf die schulische Bildung und die Lern- und Leistungsentwicklung haben oder gesellschaftliche Teilhabe einschränken können. Hierbei bedarf es der Darstellung des bisherigen schulischen Bildungsverlaufs, des Lernumfeldes, des Lern- und Leistungsverhaltens sowie der Erfassung des aktuellen Entwicklungsstands in Bezug auf Kompetenzen in den Bereichen Kognition, Sensorik, Motorik, Sprache und Kommunikation, Emotionalität und Sozialkompetenz. Dazu gehört die Erhebung von Stärken, Interessenprofilen, positiven sozialen Beziehungen und weiteren für die Entwicklung förderlichen Faktoren. (…)" Diesen 2019 veröffentlichten Empfehlungen hat auch Rheinland-Pfalz die Zustimmung erteilt.
§ 28 Abs. 1
Die folgenden Sätze ergeben keinen Sinn: „Die Eltern teilen bei dieser Anhörung ihre Entscheidung nach § 59 Abs. 4 Satz 2 SchulG mit. Die Entscheidung ist zu begründen, mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen und den Eltern zuzustellen.“ Wir gehen davon aus, dass hier eine Passage, in der es um die Schulbehörde geht, fehlt.
§ 28 Abs. 4
Wir beantragen, Satz 1 „Bei Festlegung des zieldifferenten Bildungsgangs legt die Schulbehörde … die zu besuchende Schule … fest“ zu ersetzen durch „Bei Festlegung des zieldifferenten Bildungsgangs soll dem Wunsch der Eltern bei der Wahl der zu besuchenden Schule entsprochen werden. Entscheidet die Schulbehörde davon abweichend, ist dies zu begründen."
Außerdem beantragen wir eine wesentliche Klarstellung in Satz 1, der sich auf die zu besuchende allgemeine Schule bezieht. Mit der Formulierung „die zu besuchende Schule mit inklusivem Unterricht oder die zu besuchende Förderschule“ wird nicht eindeutig ersichtlich, dass „Schule mit inklusivem Unterricht“ sowohl Schwerpunktschulen als auch andere allgemeine Schulen umfasst. Lediglich in den Erläuterungen zu den Bestimmungen wird mit Bezug auf das Schulgesetz und den Landesaktionsplan die Zielperspektive, nach der „inklusiver Unterricht zunehmend auch an anderen Schulen als an Schwerpunktschulen angeboten werden kann“, ausführlich dargelegt. Deshalb beantragen wir die Aufnahme dieser Intention in die Verordnung durch folgende Erweiterung der o.g. Aufzählung: „die zu besuchende Schule mit inklusivem Unterricht, die zu besuchende Schwerpunktschule oder die zu besuchende Förderschule“ oder alternativ „die zu besuchende Schule mit inklusivem Unterricht (Schwerpunktschule oder andere allgemeine Schule) oder die zu besuchende Förderschule“.
Dazu verweisen wir auch auf unsere einleitenden Ausführungen zu den Begriffen „inklusive Schule“ und „Schwerpunktschule“ in dieser GEW-Stellungnahme.
Weiter fordern wir, Satz 2 „Bei zielgleichem Unterricht kann die Schulbehörde auch eine andere Schule festlegen“ zu ändern in „Bei zielgleichem Unterricht kann die Schule frei gewählt werden.“ Denn eine Einschränkung des Elternwillens widerspricht dem Recht auf inklusive Bildung in der wohnortnahen Schule.
§ 32
Die Regelungen zum „Unterrichtsangebot im zieldifferenten Unterricht“ in Bezug auf die Fächer und Lernbereiche der besuchten Schule wird von uns sehr begrüßt. Allerdings erwarten wir eine zeitnahe zentrale Erarbeitung der sonderpädagogischen Lehrplanadaptionen, die in den Erläuterungen zu § 32 angekündigt sind. Diese sind für den Bildungsgang ganzheitliche Entwicklung mit zusätzlichen Inhalten, die auf Partizipation und Teilhabe im gesellschaftlichen Leben und im Arbeitsleben ausgerichtet sind, besonders wichtig.
Abschnitt 7 Unterabschnitte 3 und 4
(§§ 41-49)
Wir begrüßen es, dass die Leistungsbeurteilung im zieldifferenten Unterricht als „individuelle pädagogische Leistungsbeurteilung“ zu erfolgen hat (§ 41 Abs. 2 Satz1). Auch die davon abweichenden Regelungen zu zielgleich unterrichteten Fächern und Lernbereichen (§ 44 Abs. 3 und § 46 Abs. 2) begrüßen wir.
§ 49
In den Absätzen 2 und 3 sind die Abschlüsse für die Bildungsgänge Lernen und ganzheitliche Entwicklung aufgeführt. Als „besondere Form der Berufsreife“ wird in Rheinland-Pfalz seit Jahrzehnten der Abschluss im Bildungsgang Lernen bezeichnet. Im Gegensatz zum bundesweit normorientierten Abschluss der „Berufsreife“ ist für den Abschluss im Schwerpunkt Lernen kein bundeseinheitlicher Standard festgelegt, wobei die Länder eigene Abschlüsse vergeben können (siehe „KMK-Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt LERNEN“ von 2019). Dass das Land auch weiterhin für den Bildungsgang Lernen die „besondere Form der Berufsreife“ als Abschluss definiert (in § 49 Abs. 1), wird von uns begrüßt.
Mit dem Verordnungsentwurf soll zudem für den Bildungsgang ganzheitliche Entwicklung eine rheinland-pfälzische Bezeichnung des Abschlusses dieses Bildungsgangs definiert werden (in § 49 Abs. 2). Dies ist für uns grundsätzlich nachvollziehbar. Dass hierfür aber eine fast identische Bezeichnung vorgesehen ist, halten wir einerseits für wenig praktikabel und andererseits für inhaltlich nicht angemessen:
Um die Abschlüsse voneinander unterscheiden zu können, ist – bei Einführung – zukünftig die Benennung des Bildungsgangs unverzichtbar, wodurch die beiden Bezeichnungen „besondere Form der Berufsreife im Bildungsgang Lernen"sowie „besondere Form der Berufsreife im Bildungsgang ganzheitliche Entwicklung " zu sperrigen, schwer einprägsamen, möglicherweise Verwirrung stiftenden und deshalb unpraktikablen Begriffen werden. Da die Bezeichnung des Abschlusses im Bildungsgang Lernen in Rheinland-Pfalz gut etabliert ist, auch bei potentiellen Arbeitgebern und der Arbeitsagentur, beantragen wir, für den Abschluss im Bildungsgang ganzheitliche Entwicklung eine andere, gut verständliche und unterscheidbare Bezeichnung einzuführen. Dazu schlagen wir vor: „Abschluss im Bildungsgang ganzheitliche Entwicklung“ oder „Abschluss des Bildungsgangs ganzheitliche Entwicklung“. In ähnlicher Weise wird beispielsweise in Hessen, Sachsen und Nordrhein-Westfalen verfahren.
§ 52
Wir kritisieren den bei der Änderung der Grundschulordnung in § 28 GSchO vorgesehenen Ressourcenvorbehalt und beantragen die Streichung der Wörter „und nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Lehrerwochenstunden.“ Auch den Satz „Die Schulen können sonderpädagogische Beratung und Unterstützung beim zuständigen Förder- und Beratungszentrum anfragen“ lehnen wir ab und beantragen stattdessen die Formulierung „Die Schulen können sonderpädagogische Beratung und Unterstützung beim zuständigen Förder- und Beratungszentrum auf Anfrage erhalten“.
Hinweis:
Zur weiteren Information senden wir Ihnen die aktuellen „GEW-Positionen und Forderungen zur Umsetzung der Inklusion an Schulen in Rheinland-Pfalz – Beschluss des Landesvorstands vom 15. Februar 2023“ – in der Anlage zur Kenntnis zu.
Mainz, den 21.07.2023