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Fachkräftemangel in der Bildung

„Wir verlieren die Freude am Job“

Der Fachkräftemangel in Kitas ist dramatisch, der Stress steigt. Junge Menschen kommen hoch motiviert und topausgebildet in die Einrichtungen, werfen aber schnell wieder hin.

„Der Krankenstand in unserem Beruf ist generell extrem hoch.“ (Felix Wilhelm, Erzieher aus Frankfurt am Main / Foto: Christoph Boeckheler)

Wenn sich jeden Morgen 20 Kinder in ihre Jacken wurschteln, ihre bunten Rucksäcke aufsetzen und Hand in Hand zur Haltestelle stapfen, muss das Team des Waldkinderladens Taka Tuka im Frankfurter Nordend wenigstens halbwegs gut besetzt sein. Besonders die Fahrt mit der U- und S-Bahn raus in den Wald ins angrenzende Bad Vilbel sei eine stressige Situation, berichtet der Erzieher Felix Wilhelm. Und auch im Wald benötigen die Kinder viel Betreuung. Doch seit Mai ist eine Kollegin dauerhaft krankgeschrieben.

„Der Krankenstand in unserem Beruf ist generell extrem hoch“, sagt der Erzieher, der auch Betriebsrat und bei der GEW aktiv ist. Als das Team bei seinem Träger um eine Ersatzkraft bat, winkte der Sozialpädagogische Verein direkt ab. „Keine Chance“, sagt Wilhelm. „Es gibt einfach niemanden.“ Der Personalmangel macht Kitas überall in Deutschland enorm zu schaffen. „Das Problem ist dramatisch“, betont Doreen Siebernik, GEW-Vorstandsmitglied Jugendhilfe und Sozialarbeit.

„Zum Glück haben wir eine Praktikantin.“ (Felix Wilhelm)

Der Erzieher aus dem Frankfurter Waldkinderladen sagt, dass sie die Löcher so gut wie möglich zu stopfen versuchen. „Aber es ist psychisch und körperlich sehr belastend.“ Das Team bemühe sich nach Kräften, die 30 Stunden pro Woche ihrer kranken Kollegin irgendwie auszugleichen. Alle häuften Überstunden an. Doch diese Mehrarbeit müssten sie ja auch irgendwann wieder abbauen, so Wilhelm: „Da beißt sich die Katze in den Schwanz.“

Außerdem hofft das Team darauf, dass Eltern ihre Kinder etwas später bringen und früher abholen – und besetzt die Dienste zu Beginn und am Ende der täglichen Öffnungszeit nur mit einer einzigen Fachkraft. „Zum Glück haben wir eine Praktikantin“, sagt der Erzieher. So sei im Notfall noch eine zweite Kollegin da, falls es einen Notfall gibt oder jemand mal zur Toilette muss. „Aber es ist eine äußerst anstrengende Arbeit.“ Und das hinterlässt Spuren. Wenn so etwas kurze Zeit vorkommt, sei das kein Problem, betont Wilhelm. Aber auf Dauer merke er, wie er die Freude an der Arbeit verliere. Zumal die Kolleginnen und Kollegen nach mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie ohnehin am Limit seien. „Das ist nicht so daher gesagt.“ Überall häuften sich Konflikte in den Einrichtungen, und Fachkräfte fielen aus.

Viele Kitas bleiben geschlossen

Wenn der Krankenstand überhandnimmt, gerade jetzt im Herbst oder Winter, können viele Kitas den Betrieb nicht mehr aufrechterhalten – und bleiben geschlossen. Siebernik verweist auf einen aktuellen Brandbrief von mehr als 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die vor einem Kollaps der Kitas warnen. „Die Politik muss dringend handeln“, bekräftigt die Gewerkschafterin.

In Kindertagesstätten sind ihren Angaben zufolge bundesweit rund 820.000 Erzieherinnen und Erzieher beschäftigt. Trotz der Pandemie stiegen die Zahlen. Damit die Fachkräfte jedoch gut arbeiten und auf die Kinder eingehen könnten, müsse unbedingt der Betreuungsschlüssel verbessert werden, fordert Siebernik. So sollte eine Fachkraft für höchstens drei Krippenkinder, die jünger als drei Jahre sind, zuständig sein beziehungsweise für sechs Kindergartenkinder. „Allein dafür bräuchten wir sofort 120.000 zusätzliche Erzieherinnen und Erzieher.“

Doch damit nicht genug. Der Ausbau der Kinderbetreuung und der Ganztagsschulen erfordert weitere Fachkräfte. Konservative Prognosen gehen davon aus, dass bis Ende des Jahrzehnts rund 200.000 Fachkräfte allein in den Kitas fehlen werden, plus 80.000 in Ganztagsschulen.

„Wir brauchen eine Fachkräfteoffensive.“ (Doreen Siebernik)

Die Bundesregierung hat angekündigt, die frühkindliche Bildung mit dem sogenannten Kita-Qualitätsgesetz zu stärken. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass dafür in den nächsten beiden Jahren vier Milliarden Euro bereitgestellt werden. Doch allein für die Verbesserung des Fachkraft-Kind-Schlüssels würden zusätzlich zur aktuellen Finanzierung fünf Milliarden Euro benötigt, rechnet Siebernik vor. „Nur um den Status quo zu sichern.“ Die Gewerkschafterin fordert von der Politik, mehr Geld in die frühkindliche Bildung zu investieren. „Wir brauchen eine Fachkräfteoffensive.“

Zwar seien die Ausbildungszahlen im vergangenen Jahrzehnt bereits deutlich gestiegen. „Doch ganz, ganz viele verlassen den Beruf schnell wieder“, sagt Siebernik. Die jungen Menschen kämen hoch motiviert und topausgebildet in die Kitas, blieben im Schnitt jedoch nur vier Jahre – so kurz an einem Arbeitsplatz wie in keiner anderen Branche. Der Grund: „Die Bedingungen sind zu schlecht, die Belastung zu hoch, und es fehlt an gesellschaftlicher Wertschätzung.“

Fachfremdes Personal

Im Frankfurter Waldkinderladen ist Wilhelm heilfroh, dass die letzte Praktikantin jetzt in der akuten Personalnot noch ab und zu als Springerin aushilft. Viele junge Menschen seien nach ihrem Praktikum schnell wieder weg, berichtet der Gewerkschafter. Immer wieder bekomme er zu hören, dass sie sich den Job anders vorgestellt hätten. „Sie kommen in die Kitas, wollen mit den Kindern zusammen arbeiten, sie fördern.“ Doch in der Realität führe der Personalmangel dazu, dass die pädagogische Arbeit viel zu kurz komme. Nur mit Minimalbesetzung zu arbeiten, mache niemanden glücklich – weder die Kinder noch die Fachkräfte, ist Wilhelm überzeugt. „Dadurch steigt der Stress.“

„Mit dieser Pseudoausbildung gelten sie offiziell als Fachkräfte.“

Weil Personal knapp ist, dürfen in Hessen seit der Corona-Pandemie auch fachfremde Menschen, die in der Kinderbetreuung arbeiten, auf den Fachkraft-Kind-Schlüssel angerechnet werden – solange ihr Anteil am Fachpersonal nicht mehr als 15 Prozent beträgt. „Jeder, der sich dafür berufen fühlt, kann einen Antrag beim Jugendamt stellen“, berichtet Wilhelm. Das Hessische Kinder- und Jugendhilfegesetz schreibt lediglich vor, dass ihre Ausbildung einen Bezug zum Konzept der Kita aufweist und sie Erfahrungen im Umgang mit Kindern haben. Außerdem müssen sie innerhalb von zwei Jahren eine Weiterbildung von 160 Stunden belegen, umgerechnet 20 Tage à acht Stunden. „Mit dieser Pseudoausbildung gelten sie offiziell als Fachkräfte“, kritisiert Wilhelm.

Beim Personalschlüssel zählten sie genauso wie ihre Kolleginnen und Kollegen mit dreijähriger Erzieherausbildung. Doch das gilt nicht für die Bezahlung. „Da werden sie mit mickrigem Gehalt abgespeist“, so Wilhelm. Es sei deutlich zu beobachten, dass in Kitas immer weniger staatlich anerkannte Erzieherinnen und Erzieher arbeiteten. Das führe auf Dauer dazu, dass diese erschöpft seien, krank würden. „Und keine Lust mehr haben.“