Vorabauszug GEW Zeitung 09/2024
Warum wir gegen ein verpflichtendes Vorschuljahr sind und warum viel mehr die frühkindliche Bildung gestärkt werden muss
Die Idee eines verpflichtenden Vorschuljahres mag auf den ersten Blick verlockend erscheinen. Verbände und Opposition sehen darin eine vermeintlich einfache Lösung für eine komplexe Herausforderung, wenn es um Schulreife und Lernerfolge für Grundschulkinder geht. Doch als Bildungsgewerkschaft sehen wir diese Forderung kritisch und lehnen sie ab. Für große Herausforderungen wird es keine einfachen Lösungen geben. Es gibt überzeugende Argumente, basierend auf den Grundlagen der Bindungstheorie sowie der Entwicklungspsychologie, die gegen ein solches Vorschuljahr sprechen.
In den ersten Lebensjahren bauen Kinder grundlegende Bindungen zu ihren Bezugspersonen auf, die entscheidend für ihre emotionale und soziale Entwicklung sind. Nicht umsonst hat die Zeit der Eingewöhnung in der Kita besondere Bedeutung. Kinder lernen von und in Beziehung zu anderen. Das gemeinsame Wachsen an Herausforderungen in stabilen Gefügen ist Grundpfeiler für die gesunde Entwicklung eines Kindes. Insbesondere im Bereich der Sprache ist dies nachgewiesenermaßen grundlegende Voraussetzung und nur durch alltagsintegrierte Sprachbildung gut zu erreichen. Zum Glück sind die Zeiten überwunden, in denen Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache separiert und zum Präpositionen- und Vokabelpauken aus ihrem Gruppenkontext herausgenommen wurden. Dies ist vor allem wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Spracherwerb und engagierten Pädagog:innen zu verdanken, die auf den weitaus größeren Erfolg des Lernens am Modell sowie des handlungs- und denkbegleitenden Sprechens fortlaufend hingewiesen haben.
Ziel von Bildung muss es daher sein, dass größtmögliche Kontinuität für alle Kinder gewahrt wird und dabei Brüche in der (Bildungs-)Biografie eines Kindes vermieden werden. Der Übergang von der Kita in die Schule stellt bereits einen bedeutenden Einschnitt dar, der sensibel begleitet werden und aktiv sowohl von Kita als auch von Grundschule gestaltet werden muss. Ein zusätzliches Vorschuljahr würde einen weiteren Bruch erzeugen, der die Kontinuität in der kindlichen Entwicklung stört. Anstatt Kinder frühzeitig in schulähnliche Strukturen zu drängen, müssen die vorhandenen Bildungsinstitutionen gestärkt und die Übergangsprozesse optimiert werden. Kontinuität und Verlässlichkeit sind zentrale Faktoren für die Stabilität und das Wohlbefinden von Kindern und damit essenziell für den weiteren Bildungserfolg.
Entwicklungspsychologische Studien zeigen, dass sich Kinder in ihrem eigenen Tempo entwickeln und dass individuelle Unterschiede in der Entwicklung normal sind. Ein standardisiertes Vorschuljahr würde diese individuellen Unterschiede ignorieren und zu unnötigem Druck und Stress führen. Lerntheoretische Ansätze wie das konstruktivistische Lernen betonen die Bedeutung von eigenständigem Entdecken und Lernen im frühen Kindesalter. Kinder sollten die Möglichkeit haben, in einer anregenden Umgebung ihre eigenen Erfahrungen zu machen und durch Spiel und Exploration zu lernen. Ein strukturiertes Vorschuljahr würde diese natürlichen Lernprozesse behindern.
Die Lösung liegt demnach gerade nicht in einem verpflichtenden Jahr vor Beginn der Schulpflicht, sondern in der qualitativen Verbesserung der bestehenden frühkindlichen Bildungsangebote. Investitionen in gut ausgebildete Erzieher:innen, eine deutlich bessere Fachkraft-Kind-Relation und ausreichende sächliche Ausstattung sind der Schlüssel. Selbstverständlich muss endlich der Rechtsanspruch flächendeckend erfüllt werden – noch immer ist dies nicht überall gegeben. Frühkindliche Bildungseinrichtungen sollten Orte des Vertrauens, der Geborgenheit und der individuellen Förderung sein. Durch eine starke frühkindliche Bildung legen wir den Grundstein für erfolgreiche Bildungsbiografien und ein gesundes soziales Miteinander.
Herausforderungen im Grundschulalter: Jahrgangsübergreifendes Lernen (JÜL) als Weg zu mehr Chancengleichheit
Statt ein verpflichtendes Vorschuljahr einzuführen, das scheinbar alle Kinder auf einen vergleichbaren Stand bringen soll, sollten wir die Grundschule so gestalten, dass sie den unterschiedlichen Entwicklungsbedürfnissen der Kinder gerecht werden kann. Jahrgangsübergreifendes Lernen (JÜL) und jahrgangsgemischte Lerngruppen sind bewährte Konzepte, um den individuellen Entwicklungsständen der Kinder Rechnung zu tragen. Durch das gemeinsame Lernen von Kindern unterschiedlichen Alters wird ein flexibleres und individuelleres Lernen ermöglicht. Dies fördert nicht nur die kognitiven, sondern auch die sozialen Kompetenzen der Kinder. Außerdem wird bei den sehr unterschiedlichen Entwicklungsständen der Kinder, die in diesem Alter schon immer sehr weit auseinander liegen, auf das individuelle Lerntempo sehr viel stärker eingegangen. Die Grundschulordnung bietet bereits die Möglichkeit, dieses kindzentrierte und auf eine heterogene Lerngruppe abgestimmte Instrument zu nutzen. Statt Kindern zusätzliche Versagenserlebnisse zuzumuten, weil sie ein vermeintliches Klassenziel nicht erreicht haben, bietet eine flexible Grundschulzeit von bis zu sechs Jahren bereits heute ausreichend Möglichkeiten, Entwicklungshindernisse abzubauen und Chancen für Kinder aus unterschiedlichsten Hintergründen zu ermöglichen. Auch über die Landesgrenze hinaus bekannte erfolgreiche Grundschulen in Rheinland-Pfalz arbeiten bereits so oder haben sich auf den Weg gemacht, um auf diese Weise der gewachsenen Heterogenität noch besser gerecht werden zu können. Das Ministerium für Bildung hätte die Chance, gerade auch im Hinblick auf zu unterstützende Schulen im Rahmen des Projekts „Schule der Zukunft“, an dieser Stelle derartige Systeme auch personell noch einmal besonders zu unterstützen.
Aus unserer Sicht muss es darum gehen, dass nicht Kinder fit für „den Ernst des Lebens“ gemacht werden, sondern vielmehr Schulen ertüchtigt werden, mit heterogenen Klassen und unterschiedlichen Lernniveaus adäquat umgehen zu können. Das kann auch durch eine prozessorientierte Schul- und Unterrichtsentwicklung durch externe Anbieter erfolgen. Das Pädagogische Landesinstitut bietet eine derartige Begleitung nachfrageorientiert an.
Uns ist gerade mit Blick auf Schulen in herausfordernden Lagen sehr bewusst, dass Prozesse der Schulentwicklung mit den bestehenden Ressourcen so nicht zu stemmen sind. Von daher gilt: in die Grundschulen mit ihren aktuellen Herausforderungen muss massiv investiert werden. Wir lehnen daher die Forderung der Verbände und der Opposition nach einem verpflichtenden Vorschuljahr ab, das nachweislich keinen Nutzen hat und den bestehenden Systemen zusätzlich weitere Ressourcen entziehen würde.
Abschließend lässt sich festhalten: Ein verpflichtendes Vorschuljahr stellt keine geeignete Lösung für die bestehenden Herausforderungen dar. Es verbessert nicht die Bildungschancen für Kinder, entlastet nicht das bestehende System und ist weder zeitgemäß noch wissenschaftlich begründet. Wir brauchen stattdessen mehr Investitionen in Kita und Grundschule, um die bereits vorhandenen rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen und erwiesenermaßen erfolgreiche Ansätze zur Unterstützung von Kindern leben zu können.