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Deutsches Schulbarometer

Lehrkräfte im dritten Corona-Schuljahr am Limit

Die Coronapandemie und der Lehrkräftemangel haben viele Lehrkräfte inzwischen völlig ausgelaugt. Mehr als die Hälfte leidet an Erschöpfung, jede zehnte Lehrkraft will die Arbeitszeit reduzieren. Die GEW fordert dringend Entlastung.

Zum Zeitpunkt der Befragung stellte die Bewältigung von Corona-Maßnahmen die größte Herausforderung für Lehrkräfte dar. (Foto: Pixabay / CC0)

Im dritten Corona-Schuljahr sind viele Lehrkräfte am Ende ihrer Kräfte: Laut des Deutschen Schulbarometers, einer repräsentativen Umfrage der Robert Bosch Stiftung, erleben rund 92 Prozent der Befragten ihr Kollegium stark oder sehr stark belastet, 84 Prozent sagen dies auch für sich selbst aus. Für mehr als drei Viertel der Lehrkräfte (79 Prozent) ist Wochenendarbeit die Regel und eine Erholung in der Freizeit kaum noch möglich (60 Prozent). Die Hälfte leidet unter körperlicher (62 Prozent) oder mentaler Erschöpfung (46 Prozent). Mehr als jede zehnte Lehrkraft (13 Prozent) plant, im kommenden Schuljahr weniger zu arbeiten und das wöchentliche Deputat zu reduzieren. Die GEW fordert daher, die Lehrkräfte massiv zu entlasten und die Unterrichtsverpflichtung zu senken.

„Das System steckt in einem Teufelskreis aus Überlastung durch Lehrkräftemangel und Lehrkräftemangel durch Überlastung.“ (Maike Finnern)

„Teilzeitarbeit ist für viele Lehrkräfte ihre persönliche Flucht aus der Überlastung. Das System steckt in einem Teufelskreis aus Überlastung durch Lehrkräftemangel und Lehrkräftemangel durch Überlastung. Da kommen wir nur raus, wenn die Politik bereit ist, insgesamt mehr Ressourcen ins System zu stecken – auch durch mehr Schulsozialarbeit, schulpsychologische Betreuung und weiteres zusätzliches Personal etwa in der Verwaltung“, sagte die GEW-Vorsitzende Maike Finnern am Donnerstag in Frankfurt am Main. Es sei falsch, eine Entlastung der Lehrkräfte mit Hinweis auf den Lehrkräftemangel zu verweigern. Der Forschung zufolge fühlten sich jenseits von 25 Unterrichtsstunden pro Woche signifikant mehr Lehrkräfte sehr hoch belastet.

Krisenmanagement im Unterricht

„Lehrkräfte stehen enorm unter Druck. Sie müssen die Digitalisierung im Rekordtempo nachholen, Corona-Richtlinien überwachen, Lernrückstände aufarbeiten, einen Fachkräftemangel abfedern und eine steigende Zahl von geflüchteten ukrainischen Kindern und Jugendlichen in die Schulen integrieren“, erläuterte die Bereichsleiterin Bildung der Robert Bosch Stiftung, Dagmar Wolf. Zudem gelte es, den Fachkräftemangel abzufedern und eine steigende Zahl von geflüchteten ukrainischen Kindern und Jugendlichen in die Schulen zu integrieren. Für 44 Prozent der Befragten besteht ein Großteil des Unterrichts derzeit aus Krisenmanagement.

Zum Zeitpunkt der Befragung im April 2022 stellte die Bewältigung von Corona-Maßnahmen die größte Herausforderung für Lehrkräfte dar (38 Prozent). Es folgen der Lehrkräftemangel (26 Prozent) und das Verhalten von Schülerinnen und Schülern (21 Prozent).

Überbelastung macht krank

Laut Umfrage sind zwar drei von vier befragten Lehrkräften noch immer zufrieden mit ihrem Job (74 Prozent). „Aber chronische Überlastung macht auf Dauer krank und unzufrieden. Schulen benötigen deshalb dringend zusätzliches Personal“, betonte Wolf. Finnern verwies darauf, dass die Daten zeigten, dass sehr viele Lehrkräfte gesundheitsgefährdende Arbeitszeiten hätten. Die Folgen seien Erschöpfung, Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Unter der Überlastung der Lehrkräfte litten auch die Kinder und Jugendlichen. „Ein verantwortungsvoller Arbeitgeber geht diese Probleme an. Die meisten Bundesländer entziehen sich jedoch ihrer gesetzlichen Pflicht, Gefährdungsbeurteilungen an Schulen durchzuführen und daraus entsprechende Maßnahmen abzuleiten“, so die GEW-Chefin.

Auch bei den Schülerinnen und Schülern beobachten laut Umfrage fast alle Lehrkräfte (95 Prozent) seit Beginn der Pandemie zunehmende Verhaltensauffälligkeiten. Viele hätten Probleme, sich zu konzentrieren oder zu motivieren. Zugenommen habe auch die Aggressivität bei den Kindern und Jugendlichen. Nur an einem Drittel der Haupt-, Real- und Gesamtschulen und an jeder vierten Grundschule würden jedoch Sprechstunden von Schulpsychologinnen und -psychologen angeboten.

 „Wichtig ist, dass Schulen auf die Nöte und Sorgen der Kinder eingehen und ihnen dabei helfen, Motivation und Lernfreude zu entwickeln und zu Konzentration und Ruhe zurück zu finden.“ (Maike Finnern)

„Die deutliche Zunahme von Niedergeschlagenheit, Konzentrations- und Motivationsproblemen unter den Schülerinnen und Schülern ist nicht verwunderlich“, sagte Finnern. Die Lehrkräfte setzten den richtigen Schwerpunkt, wenn sie jetzt mehrheitlich der Förderung des psychischen Wohlbefindens Priorität einräumten. „Wichtig ist, dass Schulen auf die Nöte und Sorgen der Kinder eingehen und ihnen dabei helfen, Motivation und Lernfreude zu entwickeln und zu Konzentration und Ruhe zurück zu finden.“

„Ungleiches ungleich behandeln“

Ein zeitlicher Vergleich zwischen September 2021 und April 2022 zeigt außerdem, dass die Lehrkräfte den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit deutlichen Lernrückständen inzwischen deutlich höher schätzen (September 2021: 33 Prozent, April 2022: 41 Prozent). Das betrifft vor allem Schulen, in denen mehr als die Hälfte der Schülerschaft eine andere Familiensprache als Deutsch spricht. Drei Viertel der Lehrkräfte geben an, dass Schülerinnen und Schüler nicht die Unterstützung erhielten, die nötig wäre, um Lernlücken zu schließen.

Finnern forderte mit Blick auf Schulen mit besonderen sozialen Herausforderungen, es sei wichtig, dass Ressourcen dort ankämen, wo sie gebraucht würden. Die Gelder von Bund und Ländern müssten zielgerichteter nach sozialen Kriterien verteilt werden. Dabei laute der Grundsatz „Ungleiches muss ungleich behandelt werden“. Die Bundesregierung müsse die im Koalitionsvertrag vorgesehenen Bundesmittel für die finanzielle Förderung von 4.000 allgemein- und berufsbildenden Schulen nach einem gerechten, sozial-indizierten Schlüssel verteilen.

„Wir brauchen jetzt ein Programm ‚Aufrichten nach Corona‘ - und zwar sowohl für die Schülerinnen und Schüler als auch für die Lehrkräfte.“

Das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona“ der Bundesregierung und die entsprechenden Länderprogramme sieht die GEW-Vorsitzende derweil skeptisch. Diese würden zu kurz springen und seien sozial nicht ausgewogen. „Wir brauchen jetzt ein Programm ‚Aufrichten nach Corona‘ - und zwar sowohl für die Schülerinnen und Schüler als auch für die Lehrkräfte.“

Voraussetzung seien mehr Zeit im Schulalltag, also die Absenkung der Unterrichtsverpflichtung, sowie eine bessere personelle Ausstattung mit Lehrkräften und multiprofessionellen Teams. Die soziale Schieflage des Schulsystems, die chronische Überlastung des Personals und die psychosozialen Probleme der Schülerinnen und Schüler seien allein mit befristeten Projektmitteln nicht aufzulösen.

Die repräsentative Stichprobe des Deutschen Schulbarometers umfasste insgesamt 1.017 Lehrkräfte und wurde zwischen dem 6. und 18. April 2022 als Online-Befragung von Forsa durchgeführt.