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Inklusive Bildung: Ungereimtheiten, Transferprobleme und Perspektiven

Inklusive Bildung gehört zu den zentralen Reformbaustellen der Gegenwart. Betont wird das Recht aller Kinder auf eine gemeinsame Beschulung in einer Regelschule (§ 24 der UN-Menschenrechtskonvention). Soweit so gut. Grundsätzlich kann sicherlich niemand etwas gegen diesen Anspruch einwenden. Er zielt auf Teilhabe und Chancengleichheit, auf Gerechtigkeit und Menschenwürde und richtet sich somit gegen die verbreitete Diskriminierung von beeinträchtigten Kindern in unserem Bildungswesen.

Die Frage ist nur, wie die Realisierung dieser Option gelingen kann. Bislang ist es eindeutig so, dass die faktische Bildungspolitik deutlich andere Akzente setzt. Statt Inklusion und Integration wird unverändert selektiert und differenziert. Das beginnt bei der tradierten äußeren Differenzierung nach Maßgabe des dreigliedrigen Schulwesens (mittlerweile gibt es in einigen Bundesländern sogar viergliedrige Systeme) und reicht über das Einrichten von A-, B- und/oder C-Kursen in den Hauptfächern bis hin zur exzessiven Binnendifferenzierung mittels zieldifferenter Aufgaben, Materialien und Lernberatung.

Wie verträgt sich das alles mit dem hehren Anspruch der Inklusiven Bildung, die doch eigentlich das gemeinsame Lernen betont. Wohl kaum! Wir schaffen es im Sekundarbereich bis heute nicht einmal, die große Masse der geistig, physisch und sozial durchaus anschlussfähigen Schüler/innen durch konsequente Förder- und Integrationsarbeit in einer Regelklasse zusammenzuhalten. Diese Integrationsleis-tung ist bislang weder ernsthaft erreicht noch hinreichend in Angriff genommen worden. Das gilt im Kern selbst für viele Integrierte Gesamtschulen. Spätestens nach Jahrgangsstufe 6 werden separierende Bildungslaufbahnen definiert (z.B. Niveaukurse, Hauptschulzweig – Realschulzweig), die sich mit dem erklärten Inklusionsanspruch nur schwer in Einklang bringen lassen.

Angesichts solcher Ungereimtheiten bleibt zu fragen, ob Inklusion unter diesen Vorzeichen überhaupt gelingen kann. Vieles spricht dafür, dass inklusiver Unterricht erst dann eine ehrliche Chance hat, wenn die Lehrkräfte in der Breite bereit und in der Lage sind, die Vielzahl der anschlussfähigen L- und V-Kinder so zu fördern und einzubinden, dass sie an den gängigen Lernprozessen der Regelklassen teilhaben können. Inklusionsvermögen stützt die Inklusionsarbeit. Solange es aber dem Gros der Lehrkräfte an entsprechenden Integrationskompetenzen mangelt, ist die sehr viel anspruchsvollere Inklusionsaufgabe unter Einschluss extrem beeinträchtigter Kinder für das Gros der Lehrkräfte eine programmierte Überforderung – es sei denn, zusätzliche Fachkräfte betreuen die intellektuell nicht anschlussfähigen Kinder abseits der Lernprozesse der Regelklassen. Wo dann allerdings der Inklusionseffekt zu sehen ist, das ist und bleibt mir ein Rätsel. Viele herkömmliche Förderschulen können diesen Kindern deutlich mehr Achtsamkeit und Menschenwürde sichern, als das in einem fachlich ausgerichteten Klassenverband der Regelschule möglich ist.

Die Folge ist, dass der besagte Inklusionsanspruch derzeit von den meisten Lehrkräften der Regelschulen als chronische Verunsicherung und/oder Überforderung empfunden wird. Sie sollen den Klassenverband unterrichten und gleichzeitig jedes einzelne Kind passgenau fördern und fordern, beraten und betreuen. Das ist bei sehr breit aufgestellten Inklusionsklassen nicht nur schwierig, sondern häufig sogar unmöglich. Dies umso mehr, als die meisten Fachlehrer/innen auf diese neue Rolle noch kaum vorbereitet sind. Daran ändert auch die phasenweise Anwesenheit einer zusätzlichen Förderkraft nur wenig. Von daher spricht vieles dafür, niederschwelliger zu beginnen und die Lehrkräfte zunächst einmal praxisgerecht dafür zu qualifizieren, wie man in herkömmlichen „Normalklassen“ wirksame Förder- und Integrationsarbeit leisten kann – in Klassen also, in denen zunehmend mehr verhaltensschwierige und leistungsschwächere Schüler/innen sitzen. Den Umgang mit dieser relativ begrenzten Heterogenität müssen die meisten Lehrkräfte erstmal lernen, bevor die Inklusionsansprüche allmählich hochgeschraubt werden können.

Diese Qualifizierungs-, Sensibilisierungs- und Ermutigungsarbeit ist einer der entscheidende Schlüssel für wirksame Inklusionsarbeit in den Schulen. Wer integrativen Unterricht beherrscht und bejaht und versiert mit den spezifischen Anforderungen heterogener Lerngruppen umzugehen und mit etwaigen Förderlehrkräften zu kooperieren versteht, der wird auch vor anspruchsvolleren Inklusionsaufgaben in der Regel nicht zurückschrecken. Von daher braucht es zwingend einer möglichst überzeugenden und praxisgerechten Qualifizierungsoffensive für Lehrerinnen und Lehrer mit dem Schwerpunkt „integrationsförderndes Unterrichten in Regelklassen“. Lehrertraining, Hospitationen, Workshops und Unterrichtsbeispiele gehören genauso zu dieser Qualifizierungsoffensive wie Filmdokumentationen, Supervisionsveranstaltungen und sonstige ermutigende Innovationshilfen. Andernfalls wird Inklusive Bildung noch lange eine hohle Forderung bleiben.

So gesehen muss Inklusive Bildung in der gängigen Lehreraus- und -fortbildung ansetzen und kann nicht einfach bedeuten, dass unterschiedliche Kinder in einem Klassenzimmer mittels unterschiedlichster Aufgaben, Materialien und Betreuungspersonen irgendwie beschäftigt werden. Das ist eher eine Einladung zur Vereinzelung und Desintegration. Dieser Widerspruch durchzieht die Bildungspolitik wie die Bildungswissenschaft wie die Unterrichtspraxis seit vielen Jahren. Auf die Spitze getrieben wird dieser Widerspruch durch die aktuelle Forderung nach exzessiver Individualisierung mittels zieldifferenter Aufgaben, Materialien und Betreuungsangebote. Was hat diese Forcierung der Einzelarbeit und des Lehrercoachings mit Inklusion zu tun? Unter diesen Vorzeichen werden die Schüler/innen nachgerade dazu verleitet, „unpassenden Mitschülern“ aus dem Weg zu gehen und für sich alleine oder bestenfalls in eher homogenen Neigungsgruppen zu arbeiten und hin und wieder mit der Lehrperson zu reden. Das ist weder soziale Integration noch inklusive Bildung.

Vielmehr wird damit die eh schon fatale Egozentrik vieler Kinder nur noch weiter gesteigert – und mit ihr das zielstrebige Ab- und Ausgrenzen in den Klassen. Wer diese Kultur der Segregation ernsthaft überwinden will, der muss deutlich anders ansetzen: Einmal auf der bildungspolitischen Ebene, indem das gemeinsame Lernen schulstrukturell so verankert wird, dass der traditionelle Hang zur äußeren und inneren Differenzierung nachhaltig zurückgeschraubt werden muss. Zum zweiten aber auch und vor allem durch einschlägige Maßnahmen und Unterstützungsangebote der Lehreraus- und -fortbildung mit dem Ziel, die Lehrkräfte sowohl emotional als auch strategisch-methodisch auf den Umgang mit heterogenen Lerngruppen besser vorzubereiten. Das schließt zeit- und arbeitsökonomische Verfahren der Unterrichtsvorbereitung und -gestaltung mit ein. Andernfalls wird die wachsende Lehrerbelastung viele gute Absichten auch weiterhin zunicht machen.

Aus: GEW Zeitung Rheinland-Pfalz 7-8/2015