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Heterogenität in Bildungseinrichtungen

Entspannte Vielfalt

Alle sind in Bewegung – bei Pfeffersport e. V., Berlins größtem Kinder- und Inklusionssportverein, treiben Menschen mit und ohne Handicap seit 30 Jahren gemeinsam Sport.

Coco gehört zu der Gruppe der Ragazzis, den Fünf- bis Siebenjährigen beim Pfeffersport e.V. Sie liebt es, zu klettern und sich zu bewegen. (Foto: Rolf Schulten)

Ein Donnerstag im April. Vor der Max-Schmeling-Halle im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg cruisen Skateboarder, Mädchen haben eine Slackline zwischen zwei Bäumen im Park aufgespannt. Jörg Zwirn, Geschäftsführer des Sportvereins Pfeffersport, stößt die Tür zur Halle auf: Der Sportnachmittag ist in vollem Gange. Ganz vorn wärmen sich die „Amici“ auf, Grundschülerinnen und -schüler zwischen acht und zwölf Jahren, gleich wollen sie Brennball spielen. In Halle zwei hüpfen die „Bambini“, die Kleinen im Alter von zwei bis vier Jahren, begleitet von ihren Eltern, durch eine Landschaft aus Aufbauten fast musealer Dimension.

Mattenberge, Wackelbretter, Bälle, Kletterpfade aus verkeilten Bänken und Kästen. Halle drei gehört den „Ragazzi“, den Fünf- bis Siebenjährigen, die an Barren und Seilen hangeln. Handicaps? Sofern man bei Inklusion überhaupt nach dieser Kategorie sucht, stellt man fest: Auf den ersten Blick ist davon nichts zu sehen. Nur in der letzten Halle mischen sich Rollstuhlfahrende mit Menschen, die ein bisschen anders balancieren, gehen oder werfen, plötzlich mal laut rufen oder sich unvermittelt aus dem Spiel zurückziehen. „Das sind unsere Großen“, sagt Zwirn. „Mit ihnen hat alles angefangen.“

Eigenes Können erleben

Das war Mitte der 1990er-Jahre, als das Miteinander von Behinderten und Nichtbehinderten noch Integration hieß. Zwirn hatte, unterstützt von verschiedenen Sportverbänden, eine „Integrative Sportgruppe“ aufgebaut. 50 Prozent mit, 50 ohne Handicap. Gemeinsam mit dem Kultur- und Kreativzentrum Pfefferberg entwickelte er ein Konzept. Heute hat der Verein 4.500 Mitglieder, 150 Übungsleiter, lange Wartelisten und ein Sportangebot von Rollstuhlbasketball über Disc Golf bis Parkour.

„Wir wollen in den Sportgruppen die Diversität der Stadt abbilden und Kinder stärken. Das ist Inklusion für uns“, erläutert Zwirn. Kinder sollen erleben, dass sie etwas können. Dass sie ihre Grenzen selbst einschätzen und in der Lage sind, selbst zu entscheiden. Ein Kind kann sich nicht allein auf den Kasten ziehen? Nicht helfen, sondern klar sagen: macht nichts. Das war schon gut, probier noch etwas anderes. Selbstwirksamkeit erleben, Freude an der Bewegung entdecken – statt Leistungsstress.

„Man ist aufmerksamer, geht wertschätzender miteinander um.“ (Sven Bücks)

Die Ragazzi sausen durch Halle drei. Coco, gelbes T-Shirt, graue Leggins, liebt es, hierher zu kommen. „Ich habe meine Freundin Rani hier kennengelernt“, strahlt sie, klettert auf den Kasten vor der blauen weichen Matte, schnappt sich das Seil, das von der Decke baumelt und schwingt sich zum Kasten gegenüber. „Super“, ruft Übungsleiter Sven Bücks. Er genießt die besondere Dynamik in der Gruppe, die oft entsteht, wenn Kinder mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen zusammenkommen. „Man ist aufmerksamer, geht wertschätzender miteinander um.“

Ob ein Kind Förderbedarf hat oder nicht, wissen die Übungsleitenden der Ragazzi oft gar nicht. Nicht alle Eltern teilen das mit. Andere wenden sich an die Inklusionsberaterin des Vereins. Dann wird diskutiert: Was liegt an, welche Gruppe würde zum Kind passen? Die meisten Übungsleitenden erwerben neben dem Trainerschein eine Trainerlizenz für Freizeit- und Breitensport mit dem Schwerpunkt Inklusion, die in Zusammenarbeit mit dem Berliner Behindertensportverband angeboten wird.

Die meisten Übungsleitenden bei Pfeffersport e.V. erwerben neben dem Trainerschein eine Trainerlizenz für Freizeit- und Breitensport mit Schwerpunkt Inklusion. (Foto: Rolf Schulten)

Sensibler pädagogischer Umgang

Oliver Klar leitet bei Pfeffersport die Abteilung Qualifizierung. „Wir setzen auf ein offenes Angebot und einen methodischen Mix zwischen angeleiteten Spielen und Bewegung allein.“ Oberstes Prinzip: Freiwilligkeit. „Alle Teilnehmenden haben das Recht, auch mal nicht mitzumachen.“ Und die Übungsleitenden den Grundsatz, nach Lösungen zu suchen, wie es doch zusammen geht.

„Bei uns erleben alle Kinder unmittelbar: Wir sind nicht alle gleich, aber das macht nichts, denn wir können damit umgehen und die Regeln anpassen.“ (Oliver Klar)

Zum Beispiel: Sind Kinder mit Handicap bei einem Geschicklichkeitsspiel im Nachteil? Dann bekommen sie drei Leben, statt wie die anderen nur zwei. Beim Fußball wird immer an Kindern mit Behinderung vorbeigedribbelt? Das passiert nicht mehr, wenn Tore nur dann zählen, wenn vorher jedes Kind mit Handicap einmal Ballkontakt hatte. Klar: „Bei uns erleben alle Kinder unmittelbar: Wir sind nicht alle gleich, aber das macht nichts, denn wir können damit umgehen und die Regeln anpassen.“ Entspannte Vielfalt statt starrer Normen.

„Entscheidend ist der pädagogische Umgang, wenn es schwierige Situationen gibt“, sagt Klar. Das kann heißen, Kinder darauf hinzuweisen, wenn in der Freispielphase ein Kind mit Handicap alleine bleibt. Überlegt mal, was könntet ihr zusammen machen? Das kann bedeuten, zuzuhören: Du magst den Anton nicht, weil der so laut schreit? Warum denkt ihr euch nicht ein Schreispiel aus? Sensibler pädagogischer Umgang kann auch bedeuten, ein verängstigtes Kind beim Spiel an die Hand zu nehmen und zu schützen, damit es nicht vom Ball getroffen wird, was wehtun kann.

Inklusion als etwas Normales erleben

Natürlich, es gibt Grenzen. Yunis liebt Basketball über alles, trotz seiner Mehrfachbehinderung spielte er bei Pfeffersport eine Zeitlang in einer Basketballgruppe mit Kindern ohne Handicap – „doch es war ihm einfach zu viel“, sagt seine Mutter Nadia Lichtenberger. „Zu schnell das Spiel, zu undurchsichtig die Regeln.“ Jetzt ist Yunis bei den „Großen“, hier haben alle ein Handicap. „Hi, schau mal“, ruft Yunis und hebt den Ball mit einem kräftigen Wurf in den Korb. „Hier kann sich Yunis nach seinem Tempo entwickeln“, sagt seine Mutter. „Das tut ihm gut.“

Gong. Die Bambini in Halle zwei versammeln sich. Zum Abschluss gemeinschaftliches Bewegen, auf der Stelle trampeln, die Arme in die Luft, hüpfen, bis der Atem pfeift. Der zweieinhalbjährige Benno gluckst, Milla, dreieinhalb Jahre alt, lacht und ist schon weg, noch einmal schnell durch das Mattenrohr krabbeln. „Ich will, dass unsere Kinder Inklusion als etwas ganz Normales erleben“, sagt die Mutter von Milla. „Erst in der vergangenen Woche war Milla fasziniert von den Rollstuhlbasketballern. Sie lernt: Es gibt eine ungeheure Vielfalt auf der Welt, ohne dass wir etwas erklären müssen.“