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Queer in der Bildung

„Ihr dürft alles fragen“

Das Projekt „SCHLAU“ bietet in mehreren Bundesländern Workshops zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt an – auch an Schulen. Dabei können Jugendliche mit jungen Ehrenamtlichen ins Gespräch kommen, die meist selbst queer sind.

Wie war dein Coming-out?”, „Geht ihr händchenhaltend durch die Fußgängerzone?“, „Wurdet ihr schon mal blöd angemacht?“, „Auf welche Toilette gehst du?“ Wenn Schülerinnen und Schüler auf die Teams von SCHLAU Hessen treffen, dann haben sie viele Fragen. Nicht sofort. Aber im Laufe der rund dreistündigen Workshops melden sich nach den Erfahrungen der ehrenamtlichen Kursleiter*innen immer mehr Jugendliche zu Wort, wenn sie merken, dass die Ankündigung am Anfang des Treffens ernst gemeint war: „Es gibt keine blöden Fragen, auch wenn wir vielleicht nicht auf alle eine Antwort haben.“

Martin Gronau-Rautenkranz, Landeskoordinator von SCHLAU Hessen, und Linu Blatt vom Lokalprojekt Frankfurt am Main wissen, dass es in den Workshops auch ans Eingemachte geht. Persönliche Fragen sind erlaubt und erwünscht. Denn es gehört zum Kern des Projekts, dass die meist queeren Teamer*innen Einblick in ihr Leben gewähren. Sie behalten sich aber vor, Fragen nicht biografisch zu beantworten, wenn diese zu intim sind. Oder sie verweisen die Jugendlichen an Beratungsstellen, etwa an Pro Familia.

„Wir grenzen uns von den Themenfeldern Beratung, Selbsthilfe oder Gesundheitsprävention ab. Für all diese Themen gibt es Expert_innen und Angebote, die sich auch an Schulklassen und Jugendgruppen richten.“ (Martin Gronau-Rautenkranz)

„Wir machen keine Sexualaufklärung, sondern Antidiskriminierungsarbeit“, sagt Gronau-Rautenkranz. Das heben SCHLAU Hessen und die Projektverantwortlichen in anderen Bundesländern auch deshalb immer wieder hervor, weil es in der Vergangenheit Vorwürfe gegeben hat, Jugendliche würden in den Workshops mit Sexualität konfrontiert, sie sollten „umerzogen“ werden oder Heterosexualität werde abgewertet. Nichts davon treffe zu, betonen Gronau-Rautenkranz und Blatt. Auch auf den Online-Plattformen haben die SCHLAU-Projekte auf die Vorwürfe reagiert und „Fakten zur Bildungsarbeit“ zusammengetragen. Da heißt es unter anderem: „Wir grenzen uns von den Themenfeldern Beratung, Selbsthilfe oder Gesundheitsprävention ab. Für all diese Themen gibt es Expert_innen und Angebote, die sich auch an Schulklassen und Jugendgruppen richten.“ Und: „Da es unser Anliegen ist, dass queere Menschen nicht abgewertet werden, verbietet sich das auch für Heterosexualität.“

Kein Outing im Workshop

Jugendliche für marginalisierte Gruppen und Ausgrenzungsmechanismen zu sensibilisieren, sei das Ziel von SCHLAU, sagt Blatt, verantwortlich für die Koordination von Workshops an Schulen und anderen Bildungs- und Jugendeinrichtungen in Frankfurt. In den Workshops orientierten sich die Ehrenamtlichen an einheitlichen Qualitätsstandards, so Blatt. Und es gibt klare Regeln: Während die Teamer*innen über das eigene Coming-out und Erfahrung mit Diskriminierung berichten, dürfen die Schülerinnen und Schüler weder sich selbst noch andere outen. „Wer in der Klasse schon geoutet ist, darf das natürlich erzählen. Aber ein ‚neues‘ Outing können wir im Rahmen des Workshops nicht auffangen“, erklärt Blatt. In solchen Fällen verweisen die Ehrenamtlichen zum Beispiel an das Frankfurter Jugendzentrum „KUSS 41“; hier können Jugendliche andere queere Menschen kennenlernen.

„Es gibt zwar Offenheit für das Thema, aber das Wissen fehlt, und deshalb bleiben viele Lehrkräfte gern in der eigenen Komfortzone.“ (Tina Breidenich)

Obwohl der Umgang mit queeren Personen immer mehr in den Fokus rückt, herrscht nach den Erfahrungen des Bundesausschusses Queer der GEW in den Schulen immer noch große Unsicherheit. „Es gibt zwar Offenheit für das Thema, aber das Wissen fehlt, und deshalb bleiben viele Lehrkräfte gern in der eigenen Komfortzone“, weiß Tina Breidenich, Sprecher*in des Bundesausschusses und selbst Lehrkraft an einer Integrierten Gesamtschule in Wetzlar. Außerdem lehrt Breidenich an der Frankfurter Goethe-Universität im Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung.

Es braucht einheitliche Richtlinien

Schulleitungen und Lehrkräfte wissen nach Breidenichs Erfahrungen zum Beispiel häufig nicht, wie sie trans*, inter* und nicht-binäre Personen ansprechen können, welcher Name auf dem Zeugnis stehen soll, welche Toilette oder Umkleide queere Jugendliche benutzen oder in welchem Zimmer sie schlafen sollen, wenn es auf Klassenfahrt geht. Die Auseinandersetzung mit diesen institutionellen Fragen dürfe jedoch nicht Aufgabe der Schüler*innen sein, sagt Breidenich, sondern müsse von den Bildungseinrichtungen geregelt werden. Der Bundesausschuss Queer fordert daher einheitliche Richtlinien zur Inklusion der trans*, inter* und nicht-binären Lernenden und Lehrenden.

„Schule ist noch lange kein diskriminierungsfreier Ort.“

Bodo Busch, ebenfalls Sprecher im GEW-Bundesausschuss Queer, plädiert für mehr Sichtbarkeit der LSBTIQ*-Personen: „Schule muss zeigen, dass sexuelle und geschlechtliche Vielfalt willkommen sind“, sagt der Mathematiklehrer im Ruhestand. Seine ehemalige Schule in Nordrhein-Westfalen gehörte zu den ersten im Land mit dem Titel „Schule der Vielfalt“. Aber das seien „Inseln“, sagt Busch. Er fordert eine flächendeckende Verankerung des Themas – unter anderem durch feste Ansprechpartner*innen an den Schulen und LSBTIQ* als Pflichtthema in der Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte. Auch Breidenich sieht die Bildungseinrichtungen weiter in der Pflicht, um die Situation queerer Personen zu verbessern: „Schule ist noch lange kein diskriminierungsfreier Ort.“

SCHLAU veranstaltet Workshops in fünf Bundesländern: Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen (NRW) und Hessen. Im Zentrum steht dabei die Begegnung zwischen Jugendlichen und den meist queeren Teamer*innen. In Hessen engagieren sich laut Landeskoordinator Martin Gronau-Rautenkranz rund 70 Ehrenamtliche in fünf Lokalprojekten in Frankfurt am Main, Darmstadt, Kassel, Marburg-Gießen und Wiesbaden für die Workshops. SCHLAU Hessen wird von der Aidshilfe Kassel e. V. getragen und vom hessischen Sozialministerium finanziert. Im ersten Quartal 2023 haben nach Angaben von SCHLAU Hessen 47 Workshops stattgefunden.

Bundesweit macht SCHLAU NRW die meisten Angebote. Es ist das älteste und größte Netzwerk in Deutschland mit mehr als 250 Ehrenamtlichen und 17 Lokalprojekten. Die Nachfrage nach der Bildungs- und Antidiskriminierungsarbeit ist nach Angaben der Veranstalter bundesweit hoch. Lehrkräfte können die Workshops für ihre Klassen anfragen. Die SCHLAU-Projektverantwortlichen empfehlen allerdings, dass Lehrkräfte am Workshop selbst nicht teilnehmen, um den Jugendlichen einen „geschützten Raum ohne Bewertungsdruck“ zu ermöglichen. Es gibt aber Vor- und Nachbesprechungen mit den Lehrkräften – und diese sollten während des Workshops für die Teamer*innen und Teilnehmenden ansprechbar sein.