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Was ist los in der Kinder- und Jugendhilfe 2017 - GEW kritisiert zunehmende Ökonomisierung

Einige Jugendämter treffen ihre Entscheidung bei der Vergabe von Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe mittlerweile bevorzugt unter ökonomischen und nicht unter fachlichen Gesichtspunkten. So werden Jugendhilfemaßnahmen, wie beispielsweise die Inobhutnahme von Jugendlichen, aus finanziellen Gründen nicht bewilligt, obwohl diese von den betreuenden Fachkräften für unausweichlich gehalten werden.

Maßnahmen der stationären Jugendhilfe werden auch an Träger vergeben, deren Konzepte und deren Reputation zweifelhaft sind, die aber dem Jugendamt ein kostengünstiges Angebot vorlegen. Von einer solchen Entwicklung berichteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Veranstaltung des GEW Bezirk Koblenz, auf der Beschäftigte aus sozialpädagogischen Einrichtungen über aktuelle Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe beraten haben. Dieser droht nach Einschätzung der anwesenden sozialpädagogischen Fachkräfte als Folge einer mehr ökonomischen Betrachtungsweise mittelfristig eine Deprofessionalisierung. Auch eine Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse in diesem Arbeitsfeld zählt zu den Konsequenzen, die aufgrund einer neuen Ausrichtung der Jugendämter bei der Vergabe von Aufträgen befürchtet wird.

Bedeutung von Ökonomisierung
Bei dem, was allgemein unter Ökonomisierung der Sozialen Arbeit verstanden wird, geht es nicht etwa um einen verantwortlichen Umgang der Beschäftigten mit finanziellen Ressourcen. Es geht vielmehr um den Versuch, die Gesetze der Ökonomie, wie sie in einer Marktwirtschaft gelten, der Sozialen Arbeit überzustülpen und gleichzeitig deren eigene fachliche Prinzipien hintenanzustellen (vgl. einmischen.com). Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer der GEW-Veranstaltung berichteten, dass die Anbieter von Jugendhilfemaßnahmen, zu denen neben Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie auch viele kleine private Träger zählen, sich im Zuge ökonomischer Betrachtungsweisen und Entscheidungsfindungen von Jugendämtern bei der Bewerbung um Maßnahmen in eine ruinöse Konkurrenzsituation begeben würden. Vor allem private Unternehmen versuchten über kostengünstige Angebote an Aufträge der Jugendämter zu gelangen. Es würde in solchen Fällen jeweils mit preiswertem Personal kalkuliert. Die Qualität der Maßnahmen und die Qualität der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten wären in der Folge direkt negativ betroffen.

„Wenn in einer Kommune vom Controlling vorgegeben wird, dass Geld für drei Inobhutnahmen zur Verfügung steht und die Notwendigkeit einer vierten Inobhutnahme auftritt, kann nicht mehr nach fachlichen Gesichtspunkten entschieden werden. Hier entsteht ein Diktat des Ökonomischen.“, moniert ein Mitarbeiter eines Jugendamtes.

Merkmale von Deprofessionalisierung
Wenn nicht mehr denkende, fachlich qualifizierte und zu eigenständigen, fachlich hergeleiteten Entscheidungen fähige Beschäftigte gebraucht und gewünscht werden, nimmt die Soziale Arbeit Formen von Standardisierung und Bürokratisierung an, die einer professionellen Handhabung dieser "Kunst" widersprechen. Die Arbeit oder Teile der Arbeit können letztendlich auch von Computern, von angelernten Kräften oder ganz anders ausgebildeten Kräften erledigt werden (vgl. einmischen.com). Auf der GEW-Veranstaltung wurde von einem Fall berichtet, in dem eine Gruppe Jugendlicher ausschließlich von Berufspraktikantinnen betreut worden ist. Der Einsatz von fachfremden Personal scheint darüber hinaus häufiger vorzukommen.

Bedeutung des Begriffs Prekarisierung
Normalarbeitsverhältnisse sind nicht bei allen Trägern die Regel. Teilweise werden in der Jugendhilfe auch keine Tariflöhne mehr gezahlt. Der Anteil befristeter Arbeitsverhältnisse und von Arbeitsverhältnissen mit geringfügiger Beschäftigung nimmt zu. Zeit und Geld für Teamaustausch und Supervision werden eingespart (vgl. "Schwarzbuch der Sozialen Arbeit“ (Seithe, 2011)). Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der GEW-Veranstaltung berichteten, dass immer mehr Stellen mit gleichzeitig teils unbefristetem und teil befristetem Stundenanteil vergeben würden, sodass sich das individuelle Stellenvolumen abhängig von der Auftragslage des Arbeitgebers automatisch ändern kann. Für die Beschäftigten bedeutet dies eine sehr unsichere Situation, was die eigene Sicherheit und die eigene Lebensplanung angeht. Beschäftigte leisteten teilweise auch nicht bezahlte Überstunden. Manchmal würden ihnen keine arbeitsrechtlichen Pausen gewährt. Eine Teilnehmerin berichtete, dass Männern höhere Gehälter angeboten würden als Frauen.

„Die Träger wehren sich zu wenig. Sie lassen sich in Verhandlungen über Entgeltvereinbarungen, die sie mit dem Jugendamt führen, zu sehr unter Druck setzen. Die Jugendämter sind aber auf die Träger angewiesen. Diese könnten in Verhandlungen selbstbewusster auftreten und bessere Entgelte durchsetzen.“, sagt eine Mitarbeiterin im Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) eines Jugendamtes.

Arbeiten unter verschärftem Sicherheitsrisiko
Betrachtet man im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe das Arbeitsfeld Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH), kann man durchaus von Arbeit unter verschärftem Sicherheitsrisiko sprechen. So wird mit Menschen gearbeitet, die sich häufig in Multiproblemlagen befinden. „Viele Kinder versorgen, Probleme in der Partnerschaft, Probleme mit Geld, Sorgen um die eigene oder die Gesundheit von Familienangehörigen beschreiben einen normalen Alltag von Menschen, die in Notlagen um Hilfe suchen.“, beschreibt eine Sozialpädagogin die Situation. Die Problemlagen solcher Familien sollen Beschäftigte in der Jugendhilfe, ohne dafür aber in jedem Fall ausreichende Ressourcen zur Verfügung zu haben, erfolgreich managen. Es müssen permanent Gefährdungslagen eingeschätzt und entsprechend Entscheidungen getroffen werden. Das bedeutet in der Regel ein hohes Maß an Verantwortung zu übernehmen. Im ambulanten Bereich, wie auch in stationären Einrichtungen gibt vermehrt Beschäftigte, die fehlende finanzielle und personelle Ressourcen mit privatem Engagement, zum Beispiel unbezahlter Mehrarbeit, kompensieren. Diese Bereitschaft dient auch dazu, unter unzureichenden Bedingungen persönlichen und fachlichen Ansprüchen an qualifizierte Arbeit weiterhin gerecht werden zu können. Oft kann den Hilfesuchenden auch nur so die Betreuungs- und Beratungszeit gegeben werden, die diese für eine gute individuelle Entwicklung unbedingt benötigen. „Erschwerend hinzu kommt die Erwartungshaltung von Trägern, die Geld verdienen wollen, deshalb ökonomisch denken und handeln. So muss die Belegung stimmen, auch wenn beispielsweise eine Neuaufnahme aus fachlicher Sicht abzulehnen wäre. Gruppenzahlen müssen gehalten werden, auch wenn eine Zeit lang zu wenig Personal zur Verfügung stehen sollte. Jugendämter dagegen streben häufig möglichst kurze Hilfeverläufe an. Der Wunsch nach effizienten Hilfen und schnellen Erfolgen sind Ausdruck eines Primats des Ökonomischen, setzen die Beschäftigten aber zusätzlich unter Druck“, berichtet ein Sozialarbeiter, der über viel Erfahrung in diesem Arbeitsfeld verfügt.

„Manchmal fehlen in der Jugendhilfe die passenden Angebote. Für Jugendliche mit Drogenproblemen und Gewaltbereitschaft beispielsweise müssten bessere Betreuungsmöglichkeiten mit mehr Personal zur Verfügung stehen. So werden Jugendliche zum Nachteil von allen Betroffenen in stationären Gruppen gehalten, in denen sie nicht angemessen betreut werden können. Schuld daran sind oft die Vorgaben der Träger, für die aus wirtschaftlichen Gründen jede Belegung zählt.“, sagt ein Mitarbeiter in einem Kinder- und Jugendheim.

Was aus Ökonomisierung, Deprofessionalisierung und Prekarisierung folgt
Wenn an Personalkosten gespart wird, hat das direkte Auswirkungen auf die Qualität eines Angebotes, denn die Träger finden auf dem Arbeitsmarkt für billiges Geld keine erfahrenen Fachkräfte. Allenfalls Berufseinsteiger oder fachfremde Arbeitskräfte haben Interesse. Ein Teil der Fachkräfte verlässt das Arbeitsfeld aufgrund der unzureichenden Arbeitsbedingungen bald wieder, andere steigen aufgrund schlechter Erfahrungen im Praktikum oder vom Hörensagen erst gar nicht ein. Die Identifikation der Beschäftigten mit dem Berufsfeld lässt nach, das Arbeiten in Kinder- und Jugendhilfe bekommt einen unattraktiven Ruf. Eine andere Folge: Zu kurze oder falsche Hilfen, die aus Kostengesichtspunkten erfolgt sind, führen unter Umständen zu hohen Folgekosten. Auch ein wirksamer Kinderschutz scheint gefährdet zu sein. Aufgrund der zunehmenden Fluktuation des Stammpersonals und dem zunehmenden Einsatz von befristet Beschäftigten werden verlässliche Beziehungsangebote für Kinder, Jugendliche und Familien weniger. Außerdem führt der Paradigmenwechsel „Wer keine Hilfe annimmt und die Ziele nicht erreicht bekommt keine Hilfe mehr“ dazu, dass die hilflosesten und hilfebedürftigsten von den Angeboten ausgeschlossen werden sollen. Hohe gesellschaftliche Folgekosten sind zu erwarten.

„Solidarität unter den Beschäftigten finde ich wichtig. Als einzelner kann man nichts ausrichten, wenn es um Fragen wie Finanzierung von Maßnahmen oder Personalstandards in der Jugendhilfe geht. Außerdem unterliegen wir als Beschäftigte der Treuepflicht und können unsere Arbeitgeber nicht öffentlich kritisieren. Eine Gewerkschaft hat andere Möglichkeiten. Sie schafft Raum für Austausch und Entwicklung, greift Ideen auf und arbeitet an deren Umsetzung, nutzt politische Kontakte, um in einer Sache voranzukommen und meldet sich öffentlich zu Wort, wenn es Missstände zu beseitigen gilt.“, wirbt eine Sozialarbeiterin für eine bessere gewerkschaftliche Organisation ihres Berufsstandes.

Was sich ändern muss und welche Rolle die Gewerkschaft dabei spielen kann
Um die Macht der Jugendämter bei den Verhandlungen um Entgelte für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen zu brechen, sollten sich die Träger von Jugendhilfemaßnahmen, die dem Jugendamt gegenüber als Anbieter auftreten, als Gemeinschaft präsentieren. Ein Kartell von Anbietern könnte dem Jugendamt gegenüber mit einer Haltung auftreten „darunter machen wir es nicht“. Maßstab für einen Mindestpreis einer Maßnahme sollte die Bezahlung des Personals nach Tarifvertrag oder vergleichbaren Regelungen sein. Darüber hinaus sollte die Beschäftigung von Fachkräften nach einem Stellenschlüssel gesichert sein, der überall gelten muss. Für die Entwicklung im Team gilt es, regelmäßig Foren für Austausch und kollegiale Fallberatung zu schaffen, erforderlich sind darüber hinaus eine starke Leitungsebene und eine wertschätzende Haltung gegenüber den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Beschäftigten muss verbessert werden, denn die Gewerkschaft schafft Solidarität und wirkt gegenüber der Öffentlichkeit und den politischen Akteuren. Das gilt für den Einzelfall, wenn etwa die beabsichtigte Schließung einer Einrichtung über öffentlichen und politischen Druck verhindert werden soll, genauso, wie für die Interessen der Beschäftigten der Branche insgesamt, wenn es um Verbesserung von Tarifverträgen oder die Forderung geht, dass bei Ausschreibungen nur Träger, die tariflich bezahlen, zum Zug kommen dürfen.

In der GEW sind zahlreiche sozialpädagogische Fachkräfte organisiert. Der größte Teil von ihnen arbeitet in Kindertageseinrichtungen. Andere arbeiten in der Jugendhilfe oder in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Im nördlichen Rheinland-Pfalz haben sich GEW-Mitglieder in einem Arbeitskreis Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zusammengeschlossen. Der Arbeitskreis trifft sich alle sechs bis acht Wochen und arbeitet an fachspezifischen Fragestellungen. Kontakt: maria.schaefer@gew-rlp.de

Maria Schäfer, stellvertretende Vorsitzende GEW Bezirksfachgruppe Sozialpädagogische Berufe Koblenz
(Vorabdruck aus GEW-Zeitung 9/2017)

Maria Schäfer, Verfasserin des Artikels