Du bist Bestseller-Autor und höchst erfolgreicher Unterrichtsreformer. Was hat dich seinerzeit bewogen, die Unterrichtsentwicklung zum Kern deiner Arbeit zu machen?
Ich habe mich bereits Anfang der 1970er-Jahre als Student der Wirtschaftswissenschaften mit bildungsökonomischen Fragen beschäftigt. Damals wie heute ging es darum, wie man der drohenden deutschen Bildungskatastrophe entgegenwirken kann. Mehr Lehrer, mehr Chancengerechtigkeit, mehr Durchlässigkeit und zeitgemäßere „Schlüsselqualifikationen“ – das waren und sind zentrale Optionen. In meiner Diplomarbeit bin ich diesem Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Bildungsarbeit dann näher nachgegangen und habe u.a. die Notwendigkeit aktivierender Lehr- und Lernverfahren entdeckt. Diese Anstöße haben mich nach Beendigung meines Studiums veranlasst, als „Seiteneinsteiger“ in den hessischen Schuldienst zu wechseln und ganz bewusst an eine neu gegründete integrierte Gesamtschule zu gehen. Dort konnte ich neue Unterrichtsmethoden ausprobieren: Gruppenarbeit, Planspiele, Rollenspiele, Hearings, Debatten, Projektarbeit, Entscheidungsspiele, Betriebspraktika und vieles andere mehr. Handlungsorientierter Unterricht war das große Thema. Das Ernüchternde dabei war nur, dass sich viele Schülerinnen und Schüler mit der geforderten Selbstständigkeit und Kooperationsarbeit erstaunlich schwer taten. Diese Erfahrung hat mich in der Folgezeit bewogen, die Unterrichtsentwicklung stärker in den Blick zu nehmen, also das Methodenlernen mit Schülerinnen und Schülern, den handlungsorientierten Unterricht, die Lehrerkooperation und das schulinterne Innovationsmanagement. Diese Arbeitsfelder beschäftigen mich bis heute.
Wenn du die früheren und die heutigen Unterrichtskonzepte vergleichst: Welche Fortschritte bzw. Veränderungen siehst du?
Fortschritte sehe ich vor allem auf der pädagogischen Metaebene. Wir haben mittlerweile neue Bildungspläne und Bildungsstandards, die ganz fraglos in die richtige Richtung gehen. Konzeptionell haben wir also kräftig dazugewonnen. Kompetenzorientierter Unterricht ist mittlerweile ein Muss. Ähnliches gilt für kooperatives Lernen, Methodenschulung oder die verschiedensten Formen des freien und selbstgesteuerten Arbeitens. An pädagogischen Konzepten mangelt es also nicht.
Die eigentliche Schwachstelle ist die unzureichende Umsetzung der vorhandenen Konzepte. Der deutsch-finnische Bildungsreformer Rainer Domisch hat das in einem Vortrag einst auf Formel gebracht: „Die Deutschen sind Weltmeister im Konzipieren immer neuer Programme und Modelle, aber sie sind ziemliche Dilettanten im Bereich der praktischen Umsetzung“. Dem kann ich nur zustimmen. Veränderungen brauchen wir daher vor allem im Unterricht selbst, beim Unterrichtsskript sowie bei der Lernorganisation und Lernmoderation. Viele Stunden verlaufen heute nämlich noch ähnlich lehrer- und stoffzentriert wie vor dreißig oder vierzig Jahren. Da helfen auch die fortschrittlichsten Handreichungen und Arbeitspläne nur wenig. Die meisten Lehrkräfte brauchen nach meinem Eindruck vor allem eines: Alltagstaugliche Hilfen, Verfahren und Routinen. Da gibt es noch viele blinde Flecken.
Spätestens seit PISA sind Ganztagsschulen und integrierte Gesamtschulen verstärkt im Gespräch. Ablenkungsmanöver oder Zukunftsperspektive?
Ich bin ein Befürworter der Ganztagsschulen, allerdings nur, wenn sie in verbindlicher und rhythmisierter Form angeboten werden. Gerade Kinder aus bildungsfernen Milieus brauchen den rhythmisieren Ganztag mit einer möglichst bunten Schülermischung, wenn sie ihre vorhandenen Potenziale stärker freisetzen sollen. Auch viele Migrantenkinder profitieren von den erweiterten sprachlichen und sozialen Begegnungen. Allerdings muss dann auch gewährleistet sein, dass qualifiziertes und anregendes gemeinsames Lernen stattfindet. Diese Bedingung ist vielerorts leider nicht gegeben. Die Notlösung mit den nachmittäglichen Betreuungsangeboten durch schulfremde Honorarkräfte sichert dieses gemeinsame Lernen gewiss nicht.
Ähnlichen Etikettenschwindel beobachte ich bei zahlreichen Integrierten Gesamtschulen und Gemeinschaftsschulen. Zwar bin ich vom Grundsatz her für diese Schultypen, die sich Integration, Chancengerechtigkeit und neue Lernverfahren auf die Fahnen geschrieben haben. Allerdings irritieren mich bis heute die rigiden Differenzierungsanstrengungen, die vielerorts unternommen werden. Da wird spätestens ab Klasse 7 nicht nur äußere Differenzierung auf mindestens zwei Niveaus betrieben, sondern häufig auch noch ausgeprägte Binnendifferenzierung. Das treibt die Schülerinnen und Schüler auseinander. Wie das mit dem erklärten Integrationsanspruch zusammengeht, verstehe ich nicht.
Immer mehr Eltern schicken ihre Kinder auf Privatschulen. Ist das eine Reaktion auf die mangelnde Unterrichtsqualität in den staatlichen Schulen?
Bei manchen Eltern mag das durchaus ein Motiv sein. Für viele Eltern gilt jedoch, dass sie ihre Kinder in erster Linie vor der Proletarisierung des Gymnasiums und der Realschulen schützen wollen. Sie möchten für ihre Kinder eine gewisse Exklusivität sichern und schicken sie daher in speziell profilierte Privatschulen: kirchliche, anthroposophische, internationale usw. Vielen dieser Eltern geht es also mehr um Exklusivität und Prestige als um die Art und Qualität des Unterrichts. Gleichwohl glauben viele von ihnen, dass die Privatschulen moderneren und besseren Unterricht böten. Das ist insofern ein Missverständnis, als die meisten Privatschulen bestenfalls kleinere Klassen, mehr Flexibilität und intensivere Betreuungsangebote in die Waagschale werfen können. Der landläufige Unterricht ist in der Regel kaum anders als in den staatlichen Schulen. Schließlich wirkt die Lehrerausbildung egalisierend. Andererseits sind die Privatschulen einem erhöhten Innovationsdruck ausgesetzt, wenn sie sich auf dem Bildungsmarkt behaupten wollen. Das betrifft gewiss auch die Lehr- und Lernverfahren. Privatschulen, die hier innovativ sind, können den staatlichen Schulen schnell den Rang ablaufen.
Wie können bzw. sollten Lehrkräfte mit der wachsenden Heterogenität in den Klassen umgehen?
Die aktuellen Zauberworte heißen Individualisierung, Differenzierung, Freiarbeit und lehrerseitige Intensivbetreuung der Kinder. Damit soll der Vielfalt in den Klassenzimmern begegnet werden. Die Lehrkräfte sollen Lerntheken aufbauen, unterschiedlichste Materialien und Aufgaben entwickeln und jedem einzelnen Schüler als Berater und Coaches zur Seite stehen. Für mich ist das die programmierte Überforderung. Daher brauchen wir dringend einen anderen Ansatz. Einen Weg, der alltagstauglich ist und den Lehrkräften – ganz im Sinne der GEW - die nötige Zeit- und Arbeitsökonomie sichert.
Ich plädiere deshalb seit Jahr und Tag dafür, die Förderarbeit stärker auf die Schülerqualifizierung zu konzentrieren. Das heißt: Auf den systematischen Aufbau grundlegender Lern- und Sozialkompetenzen auf Schülerseite sowie einen darauf gestützten integrationsfördernden Arbeitsunterricht in den Fächern. Das ist machbar und lohnend. Der Grundgedanke dabei ist der: Wenn die Schülerinnen und Schüler methodisch und sozial fit sind und der Fachunterricht differenzierte Arbeits- und Interaktionsanlässe für den Klassenverband bietet, dann ist selbstreguliertes Arbeiten und Kooperieren nicht länger eine Utopie. Das bestätigen die von mir betreuten Unterrichtsentwicklungsprojekte in mehreren Bundesländern. Die Schülerinnen und Schüler helfen, beraten, kontrollieren und erziehen sich wechselseitig; die Lehrkräfte können sich stärker zurücknehmen und beobachten. Das begünstigt Lehrerentlastung und Schülerintegration Wichtig auch: Dieses Miteinander- und Voneinander-Lernen nützt erwiesenermaßen allen: den Schwächeren wie den Stärkeren. Das zeigt sowohl die neuere Lernforschung als auch die jüngsten PISA-Studie.
Auf der letzten Bildungsmesse in Hannover war viel von Individualisierung und Digitalisierung die Rede. Sind das die Problemlöser der Zukunft?
Ich habe meine Zweifel. Zu den Tücken der Individualisierung habe ich bereits gesagt, dass der Vorbereitungs- und Betreuungsaufwand für die Lehrkräfte schnell überhandnimmt. Hinzu kommt das pädagogische Dilemma, dass viele Schüler und Schülerinnen in Phasen der Alleinarbeit häufig überfordert sind, andererseits aber auch nicht den Mumm haben, die Lehrkraft oder irgendwelche versierten Mitschüler anzusprechen. Von daher führt die propagierte Individualisierung sehr schnell in die Sackgasse.
John Hattie hat diese drohende Hilflosigkeit sehr schön belegt. Ähnliches gilt für das neue Wunderwerk der Digitalisierung. Zwar bin ich überzeugt davon, dass die digitalen Arbeitsmittel wie Computer, Smartphones, Whiteboards usw. den Unterricht zukünftig sehr bereichern können – vorausgesetzt, die technischen und methodischen Voraussetzungen werden in den Schulen geschaffen. Bereichern heißt aber nicht gewährleisten! Auch zukünftig werden nach meiner Ansicht konventionelle Lehr- und Lernverfahren nötig sein, die dem Lernen der Kinder Struktur und Tiefe geben und das Erfahrungslernen und das Miteinander in den Klassen betonen. Digital gestützte Selbstlernprozesse können diese Arbeitsweise anreichern, aber nicht ersetzen.
Inklusion, Abschaffung der Förderschulen. Wie realistisch und bildungswirksam ist diese Reforminitiative?
Über die Notwendigkeit verstärkter Inklusionsbemühungen muss sicher nicht länger gestritten werden. Die Frage ist nur, in welchen Schritten und in welchem Umfang Inklusion tatsächlich gelingen kann. Die Behindertenrechtskonvention der UN zielt auf ein Mehr an Teilhabe und Menschenwürde, aber nicht um jeden Preis. Von daher sind Behutsamkeit und Abwägen angezeigt. Uneingeschränkt optimistisch bin ich bei der Gruppe der lern- und verhaltensgestörten Kinder - Seh- und Hörbeeinträchtigte eingeschlossen. Diese sind in der Vergangenheit oft vorschnell auf Förderschulen abgeschoben worden. Ein Großteil dieser Kinder hat erhebliche intellektuelle und sozial-emotionale Reserven und kann bei frühzeitiger Förderung und Integrationsarbeit sehr wohl in der Regelklasse gehalten werden. Hier macht das Zurückdrängen der Förderschulen also durchaus Sinn.
Viel schwieriger wird es dagegen bei jenen Kindern, die ausgeprägt geistig oder auch mehrfachbehindert sind und deshalb im gängigen Fachunterricht per se nicht mitwirken können. Sie lediglich im Klassenzimmer sitzen und von speziellen Förderkräften betreuen zu lassen, hat mit ernsthafter Inklusion wenig zu tun. Viele dieser Kinder sind in spezialisierten Förderschulen sehr viel menschenwürdiger aufgehoben als in einer Regelklasse. Im Ausland kann man diese unverkrampfte Differenzierung der Förderangebote und Fördereinrichtungen gut beobachten. Was dort geht, sollte auch bei uns möglich sein.
Die Lehrerbildung müsste der Motor der Unterrichtsentwicklung sein. Inwieweit ist das der Fall und was müsste ggf. geändert werden?
Die Lehrerbildung erlebe ich selten als Motor der Unterrichtsentwicklung. Das gilt insbesondere für die Lehrerausbildung an den Hochschulen. Hier ist es nach wie vor Usus, den erziehungs- und fachwissenschaftlichen Überbau des Lehrerberufs zu skizzieren und die praktische Lehrerarbeit eher zu vernachlässigen. Dieser Abstraktismus der Lehrerbildung wird in der zweiten und dritten Ausbildungsphase zwar deutlich überwunden, aber auch in diesen Phasen kommt der Aufbau unterrichtspraktischer Handlungskompetenzen häufig viel zu kurz. Zweistündige Seminare und halb- oder eintägige Fortbildungsveranstaltungen erzwingen relativ vordergründige Instruktionen und Aussprachen. Innovatives praktisches Handwerkszeug der Lehrkräfte wird unter diesen Umständen viel zu wenig eingeübt. Lehrertraining, Simulationsspiele, Workshops, Unterrichtsbesuche, Fallstudien und andere Learning-by-Doing-Angebote fehlen meist. Kein Wunder also, dass die Unterrichtsentwicklung in den Schulen wenig Schub erfährt. Hier muss die Lehrerbildung dringend umsteuern und bessere Vorleistungen erbringen.
Viele Lehrkräfte beklagen wachsende Belastungen im Schul- und Reformalltag. Wie ließe sich Lehrerentlastung erreichen?
Die vorgebrachten Klagen sind in Teilen sehr berechtigt. Viele Reformen waren in der Vergangenheit eher vordergründiger und zeitintensiver Aktionismus. Da wurden in unzähligen Sitzungen abstrakte Schulprogramme oder Leitbilder entwickelt, aufwändige Arbeitspläne erstellt, schulinterne Evaluationen konzipiert oder vielfältige Pflichtfortbildungen zu den neuen Bildungsplänen oder sonstigen schulpolitischen Weichenstellungen abgesessen. Ich verstehe gut, dass sich viele Lehrkräfte dadurch unnötig belastet oder auch frustriert fühlen. Was ich allerdings nicht verstehe, ist, dass die Lehrkräfte so wenig gegen die unterrichtlichen Belastungen angehen. Hier sehe ich die größten Chancen. Entlastung durch konsequente Methodenschulung, durch Teamentwicklung in den Klassen, durch verbindliche Regeln und Rituale, durch eingespielte Arbeitsabläufe und Arbeitsroutinen – das alles reduziert den Arbeitsstress für die Lehrkräfte. Die von mir entwickelten und publizierten Lernspiralen und Trainingsspiralen sichern derartige Entlastungseffekte. Ein weiterer Entlastungshebel ist die Lehrerkooperation. Das beginnt bei der arbeitsteiligen Unterrichtsvorbereitung im Rahmen schulinterner Workshops und reicht über abgestimmte Lehr-, Lern- und Erziehungsstile auf Klassen- und Schulebene bis hin bis zu kooperationsfördernden Freistellungs- und Unterstützungsmaßnehmen der Schulleitungen.
Deine Empfehlungen an die GEW?
Ich kann direkt beim Thema Lehrerentlastung anknüpfen. Natürlich verstehe ich, dass eine Gewerkschaft wie die GEW für kleinere Klassen, bessere Lehrerversorgung, mehr Anrechnungsstunden, höhere Besoldung oder mehr Demokratie und Inklusion in der Schule eintritt. Nur: Die meisten dieser Forderungen verpuffen auf der Metaebene des bildungspolitischen Schlagabtauschs. Das ist alles andere als befriedigend.
Deshalb würde ich mir wünschen, dass die GEW sehr viel stärker als bisher auf die Verbesserung der konkreten Arbeits-, Kooperations- und Fortbildungsbedingungen der Lehrkräfte abstellt. Wie Uwe Schaarschmitt in seinen diversen Studien zur Lehrergesundheit nachgewiesen hat, machen den Lehrkräften nämlich vor allem die Friktionen und Störungen im alltäglichen Unterricht zu schaffen. Von daher liegt es nahe, z.B. die unterrichtszentrierte gewerkschaftliche Lehrerfortbildung gezielt auszubauen und dabei neue fortbildungsdidaktische Akzente zu setzen und der Politik vorzuführen: Mehrtägige Seminare, Erfahrungslernen, Lehrertraining, kollegiale Supervision, Bereitstellung bewährter Lehr- und Lernhilfen, gemeinsame Unterrichtsvorbereitung, Archivierung innovativer Stunden usw. Da sind gewerkschaftliche Initiativen und Publikationen dringend vonnöten.
Wichtig wäre aber auch, dass die GEW gegenüber der Bildungspolitik und der Bildungsadministration vehementer als bisher für eine fokussierte Unterrichtsentwicklung eintritt und geeignete Rahmenbedingungen und Unterstützungsleistungen des Staates benennt und durchsetzt. Das betrifft die Lehrerausbildung wie die Lehrerfortbildung, die Lehr- und Lernmittelbeschaffung wie die Lehrerfreistellung, die Prüfungsverfahren wie die Schulleiterqualifizierung. Für viele Schulleiterinnen und Schulleiter wäre es gewiss hilfreich, zum Aufgabenfeld Unterrichtsentwicklung ein mehrtägiges Strategieseminar zu durchlaufen, um das praktische Innovationsmanagement genauer auszuloten. Dafür könnte sich die GEW z.B. stark machen. Von daher spricht vieles dafür, dass die GEW gut daran tut, die praktische Unterrichtsentwicklung verstärkt in den Blick zu nehmen und den Lehrkräften einen möglichst ermutigenden Innovationsservice zu sichern.
Vielen Dank für das Gespräch.
Aus GEW-Zeitung 5-6/2018