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Ex-GEW-Landesvorsitzender verlässt SPD

SPD 1994-2019 - Entfremdung - Verabschiedung

Der ehemalige GEW-Vorsitzende Frieder Bechberger, der die Bildungspolitik in Rheinand-Pfalz ein Vierteljahrhundert in Beruf und verschiedenen Parteigremien mitgestaltet hat, kehrt der SPD den Rücken. In einer mehrseitigen Erklärung begründet Bechberger seinen Schritt insbesondere mit Mutlosigkeit und Versäumnissen in der Bildungspolitik der SPD, die in Rheinland-Pfalz seit 1991 regiert. Die GEW veröffentlicht die Erklärung im Folgenden:

SPD  1994 - 2019 - Entfremdung - Verabschiedung

1991 wurde die SPD-Wahlsieger in unserem konservativen Bundesland. Der Wahlsieg war absehbar, die CDU war verbraucht und abgenutzt,  Personal setzte sich ab, schwarze Hoffnungslosigkeit, die Regierungsmacht fortsetzen zu können, machte sich erkennbar breit. SPD und auch die noch jungen Grünen, auch die Gewerkschaften bereiteten sich auf die Ablösung der CDU vor, die seit Gründung von Rheinland-Pfalz unterbrochen regierte, länger an der Macht war, als die DDR bestand. Der Wechsel war überfällig, sollte Rheinland-Pfalz den Anschluss an den gesellschaftlichen Wandel nicht verschlafen und in seiner bräsigen Behäbigkeit verhaftet bleiben. Entsprechend stiegen die Hoffnungen auf Veränderungen, gerade auch im Bildungsbereich, der besonders reaktionär gestaltet war. Auch mich hatten diese Hoffnungen erfasst als Lehrer an einer der wenigen Gesamtschulen in Rheinland-Pfalz. Selbstverständlich auch als GEW-Mitglied und seit 1983 als GEW-Vorsitzender schienen mir nach der Wahl im Frühjahr 1991 Möglichkeiten realistisch werden zu können, für die ich während meiner gesamten zurückliegenden pädagogischen und gewerkschaftlichen Tätigkeiten zwar gearbeitet habe, die ich aber als so fern ansah, dass nicht nur ich mir deren Realisierung nicht vorstellen konnte; denn die offensichtlich manifesten Verhältnisses schienen machtpolitisch bisher nicht veränderbar.
Doch das ziemlich Unvorstellbare passierte dann doch. Die CDU wurde in die Opposition abgedrängt, die SPD unter Scharping hatte die Option einer Rot-Gelben- oder einer Rot-Grünen-Regierung. Die SPD führte mit beiden kleinen mehrheitsbeschaffenden Parteien Koalitionsverhandlungen und entschied sich – parteitaktisch vermeintlich richtig – für die FDP, seit 1947 fast immer Machtstütze für die Schwarzen. Aus Sicht der SPD also eine Entscheidung für eine regierungserfahrene Partei, man selbst muss ja erst mal in diese Rolle hineinwachsen. Warum sollte das Risiko eingegangen werden, mit den ebenfalls noch unerfahrenen Grünen gleich den größeren Sprung in die Moderne der rheinland-pfälzischen Landespolitik zu wagen. "Wir wollen ja möglichst lange regieren und aus der Euphorie des historischen Wahlsiegs Kraft saugen für unsere langfristige sozialdemokratische Politik", so das damalige und auch nachträgliche Narrativ für das dann folgende langfristige Zusammengehen mit der FDP. An welche Bremsklötze die SPD sich angebunden hatte, hätte eigentlich von Anfang an klar sein können, aber zunächst war der historische Wahlsieg zu feiern und zu genießen, was den Blick auf den gewieften Koalitionspartner trübte.
Auch ich war von dieser Euphorie angesteckt, kein Wunder nach zäher und vielfach frustrierender und erfolgloser Gewerkschaftspolitik in den 80er Jahren, den Jahren der pädagogischen Restauration und der rigorosesten Sparpolitik des Landes seit den frühen elenden Nachkriegsjahren. Es war die Zeit der ersten neoliberalen "Blüte", so direkt zwar nicht benannt, aber es war die Zeit des Abwürgens der öffentlichen Haushalte, insbesondere des Rückbaus der Personalhaushalte des Landes. Da in den Schulen die meisten öffentlich Beschäftigten arbeiteten, mussten sie die meisten Federn lassen. Rd. 3000 Stellen sind damals mit dem Argument der zurückgehenden Schülerzahlen aus dem Bildungshaushalt verschwunden. Dies hatte für die Schulen verheerende und sie beschädigende Folgen. An Zwangsteilzeit unter geltende Sozialstandards und  bisher nicht gekannte Arbeitslosigkeit von Lehrerinnen und Lehrern sei hier besonders erinnert. Ganze Studienjahrgänge verloren ihre berufliche Perspektive und wurden arbeitslos, obwohl mehr als genügend Beschäftigung in den Bildungseinrichtungen vorhanden war.
Damit sollte nach dem Wahlsieg der Genossen nun Schluss sein. Die Chance war da, Forderungen zu realisieren, die SPD, Grüne und Gewerkschaften schon lange im Programm hatten – kleinere Klassen, das zementierte mehrgliedrige Schulsystem aufzubrechen durch mehr Gesamtschulen, Schulversuche wie den des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht behinderten Kindern zu erweitern, insgesamt das Bildungssystem auch durch mehr Mitsprache aller Beteiligten zu öffnen, auf Chancengleichheit hin orientierte Reformen vorzubereiten und – selbstredend – endlich wieder mehr Personal den Schulen bereitzustellen.
Viele waren bewegt von diesen Hoffnungen, gerade auch in der GEW, die wir lange Jahre im Vorfeld dieses historischen Wechsels mit den Oppositionsparteien für unsere Vorstellungen eines demokratischen Bildungssystem geworben hatten, durchaus auch bei den alten Regierungsparteien. Auch ich war bewegt und hoffnungsvoll, sodass ich der Einladung der ersten rheinland-pfälzischen Bildungsministerin folgte, mit ihr zusammen Neues zu wagen und umzusetzen, ohne Parteimitglied zu sein.
Es wäre nun falsch zu sagen, es hätte keine Veränderungen und Verbesserungen nach der Regierungsübernahme durch die SPD gegeben, aber es war wohl naiv zu glauben, Grundlegendes zu verändern, sei möglich gewesen, z. B. das selektive Schulsystem nach und nach zu einem integrativen, der Demokratie angemessenen Bildungssystem zu entwickeln mit den erforderlichen inhaltlichen Veränderungen, nichts weniger also als die eigene Programmatik umzusetzen. Ja, das Bildungssystem wurde ein wenig geöffnet und gelüftet, die rigorose und zwangsweise Schulartenzuweisung der Grundschulkinder nach der vierten Klasse wurde aufgebrochen, vielleicht die wichtigste Reform der damaligen Jahre. Gesamtschulen konnten vergleichsweise leichter gegründet werden als zu CDU-Zeiten, aber die Anerkennung als Regelschule ließ lange auf sich warten. Es war jedoch weiterhin nicht möglich, Gesamtschulen einzurichten, die andere Schulen hätten ersetzen können. Das bestehende System erhielt sich hartnäckig, Philologenverband und CDU sicherten ihr Terrain, besonders die FDP, die ja Regierungspartei war, hielt ihre Hand über dem Alten, ohne dass die SPD ernsthaft dagegen ankämpfte. Man musste den Eindruck gewinnen, dass es ihr gerade bei den bildungspolitischen Reformansätzen ganz recht zu sein schien, nicht allzu sehr die eigenen Ideen realisieren zu müssen, denn das hätte klare Positionierung erfordert, was aber vermutlich auch die eigene Klientel zu sehr beunruhigt hätte. Deshalb beließ es die neue Regierung bei kleinen Placebos wie der Einrichtung des kleinen und im Grunde unnötigen Schulversuchs "Regionale Schule", bei einigen Reformhäppchen und – sicher bedeutsam – bei zu Anfang großzügigem Umfang von Neueinstellungen, die jedoch die Verluste der 80err Jahre bei weitem nicht kompensieren konnten.
Selbst dieser zarte Reformwind war nach zwei, drei Jahren bereits wieder vorbei. Die deutsche Einigung forderte ihren Tribut, den alle Bundesländer leisten mussten. Diese Haushaltsbelastung traf das große Bildungsressort stark und teilweise verstörend. Erneut war ein Sparprogramm angesagt, das Einstellungen verlangsamte und z. B. Unterrichtsverpflichtungen erhöhte. Stellen wurden nicht gestrichen, das nicht. Es wurde jetzt nicht "gespart", sondern mit diesen Maßnahmen sollte die, wie auch immer geartete, "Effizienz" des Schulsystems erhöht werden. Die Enttäuschung über das schnelle Verlassen des mühsam beschrittenen Reformwegs brachte jetzt auch die auf, die den Wechsel erwartungsvoll begrüßt hatten. Dies löste gerade auch bei der GEW massive Proteste aus, von den Reaktionären des Philologenverbandes ganz abgesehen. So war der kurze Reformfrühling recht schnell vorbei. Statt wenigstens den schmalen Reformweg fortzusetzen, wird die Bildungsministerin ausgewechselt, damit "Ruhe in der Schullandschaft" einkehren sollte. Das Händereiben der Konservativen in diesem Land war überall zu hören. Parteifunktionäre und Fraktionsmitglieder liefen mit eingezogenen Köpfen durch die politische Landschaft, der Reformflügel der SPD verlor drastisch an Einfluss. Nun zog ein völlig schulfremder Minister ins Bildungsministerium ein, dessen größtes Vorhaben, die Reform der Lehrerbildung, wenn auch lediglich mit dem Ziel, die Bologna-Vereinbarungen umzusetzen im Klein-Klein stecken blieb. Die alten, im 19. Jahrhundert entstandenen und Standesunterschiede betonenden Lehrämter wurden  auf Druck der nach wie vor mächtigen reaktionären Verbände nicht abgeschafft. Die Lehrämter blieben ungleichwertig und bereiten weiterhin – wie eh und je – auf Schularten vor, die ja ebenfalls ungleichwertig nebeneinander fortbestanden – wenig  Haltung, wenig Standhaftigkeit, wenig Vertrauen zu den eigenen Zielen auch hier!

Aber die 90er Jahre bleiben – zumindest auf der Bundesebene – Jahre der Reformhoffnungen, denn erstmals kommt 1998 eine Rot-Grüne-Bundesregierung an die Macht. Die schwarzen Jahre unter Kohl mit all dem kulturellen Stillstand sind endlich vorbei. Rot-Grün – lange wurde eine solche Konstellation erhofft und herbeigesehnt – ist endlich Realität. Aber auch hier, neben durchaus Anerkennenswertem, wie z. B. dem Atomausstieg und einer Änderung des innenpolitischen Klimas hin zu mehr kultureller Öffnung, die neue Lebensformen ermöglichte, bleibt im Nachhinein der schale Geschmack des Sozialabbaus, der Einführung von Harz IV und der Schaffung des größten Niedriglohnsektors in der EU, das gesamte neoliberale Programm also bis hin zur Abschaffung der Vermögenssteuer und der Senkung des Spitzensteuersatzes werden von Schröder, dem Kanzler der Bosse, und Fischer durchgesetzt. Dieser rücksichtslose Beitrag zur weiteren Spaltung der Gesellschaft in Oben und Unten war bisher vorstellbar für die asozialen wirtschaftsliberalen Kräfte von CDU und FDP, aber für Rot-Grün doch eigentlich undenkbar!  Einen größeren Vertrauensverlust hat sich die SPD in ihrer langen Geschichte wohl nie selbst erarbeitet, von der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 vielleicht abgesehen. Wesentlichste Konsequenz dieser schlimmen Politik ist vor allem eine um vieles tiefer gespaltene Gesellschaft. Die Partei selbst, deren Bedeutungsverlust unaufhaltsam zu sein scheint, wird durch den seitdem andauernden Mitgliederverlust – die SPD zählt im Vergleich zu den 90er Jahre nicht einmal  halb so viele Mitglieder – auch intern weiter und erheblich geschwächt. Die Rezepte dies aufzuhalten, soweit überhaupt welche erkennbar sind und über das Austauschen von Personal hinausgehen, sind nicht tragend bzw. mit Blick auf die Rückgewinnung von Vertrauen ohne Überzeugungskraft. Wie soll auch Vertrauen in eine Partei gewonnen werden, die ihren Markenkern, soziale Gerechtigkeit zum wesentlichen Ziel ihrer Politik zu machen, vielleicht nicht aufgegeben, aber doch mehr als in Frage gestellt hat. Und die sich weigert einzugestehen, dass die Schrödersche Agenda, dem Neoliberalismus die Parteitür aufzumachen, ein schwerer Fehler war. Wie lange hat es gedauert, bis darüber endlich eine vorsichtige Auseinandersetzung in der Partei stattfand? Gerade erst begann sie, viel zu spät, viel zu halbherzig. Wer dies intern forderte, wurde aufgefordert, dies Stück unangenehme Vergangenheit endlich zurückzulassen, da ein solches Eingeständnis nicht hilfreich für die zukünftigen Aufgaben sei.
Sicher kommt hinzu, dass die lange und die Partei auszehrende GroKo diese parteiinterne Auseinandersetzung zusätzlich erschwerte. Das weitere Abschälen des Markenkerns war das Mittragen von Beschlüssen der GroKo zum Abbau des Asylrechts und davor, 1993, als die SPD in der Opposition dem starken Druck nach Verschärfung des Asylrechts durch die damaligen Regierungsparteien CDU und FDP, von der geifernden Boulevardpresse zusätzlich agitiert, nicht widerstand und so  die - angesichts der deutschen Geschichte – vielleicht folgenreichste Änderungen des Grundgesetzes mittrug. Der damals neu eingefügte  GG-Artikel 16 a hält zwar am ursprünglichen Satz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" quasi als Präambel fest, die dann neu eingefügten folgenden 4 Absätze schränken "dieses liberale Asylversprechen faktisch wieder ein", wie Patrice G. Poutrus in seinem gerade erschienen Buch "Umkämpftes Asyl – vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart" feststellt und fährt fort, dass "diese Verfassungsreform nicht vor allem den Missbrauch des Asylrechts beendet, sondern tatsächlich politisch Verfolgten kaum noch die legale Möglichkeit gelassen (hatte), in Deutschland um Asyl zu bitten" (S. 179). Hier bereits wurde ein wichtiges Menschenrecht zumindest aufs Spiel gesetzt und als SPD mit in Frage gestellt, damals schon das Zurückweichen vor den stärker aufkommenden rechten Kräften im nun vereinten Deutschland.
Das findet seine traurige Fortsetzung, indem in der letzten und aktuellen GroKo der immer weiteren Öffnung der CSU nach rechts in dieser Frage seit 2015 nicht Einhalt geboten wurde. Die SPD ließ sich vielmehr  immer wieder dazu hinreißen, gerade jetzt wieder bei der Verabschiedung des euphemistisch titulierten "Geordnete-Rückkehrgesetz(es)", mit dem neue Schikanen gegen Asylbewerber durchgesetzt werden können. Abgesehen von der dadurch weiter zunehmenden Bedrückung von Flüchtlingen, ist es verwerflich, wenn die SPD, zusammen mit CDU und CSU in der GroKo, die Flüchtlingsfrage systematisch und immer wieder skandalisiert, statt endlich nein zu sagen. Die SPD, die wie kaum eine andere Partei eine eigene Exilgeschichte hat, scheint so schwach geworden zu sein, dass sie dieses Erbe ihrer selbst in erschreckender Weise verdrängt hat. Sie hat zudem offenkundig nicht verstanden, wem allein solche Politik nützt: Nur dem rechten Rand. So wird die eigene Substanz  weiter ausgehöhlt und geschwächt, nicht zuletzt geht wieder ein gewichtiges Stück Glaubwürdigkeit verloren.

Zu den großen gesellschafts- und sozialpolitischen Fehlern, die die SPD in der GroKo mitgetragen hat, gehört auch das Festhalten an der sog. "Schwarzen Null" und damit verbunden die Bereitschaft, zur Einführung der Schuldenbremse die Verfassung zu ändern, auch die rheinland-pfälzische Landesverfassung erfuhr die entsprechende Ergänzung.
Der neoliberale Wahn der Verarmung der öffentlichen Haushalte wird von den Sozialdemokraten, die sich doch dem Wohl der Allgemeinheit in besonderer Weise verpflichtet fühlen müssten, mitgetragen und gutgeheißen. Leise Hoffnung kam auf, diesen Irrweg, der halb Europa verunstaltet und geschwächt hat, nicht weiter mitzugehen, als die SPD mit Olaf Scholz in der neuen GroKo das Finanzministerium übernahm. Ein Finanzminister, der das Gemeinwohl im Blick hat, so wurde die Übernahme dieses Ministeriums durch einen SPD-Mann von den Genossen auch "beworben". Doch Scholz hat gleich zu Beginn alle diesbezüglichen Erwartungen beiseite geräumt: "Sie können sicher sein", erklärte er auf einer seiner ersten Pressekonferenzen nach seiner Ernennung zum Finanzminister, "dass die Schwarze Null auch von einem SPD-Minister eingehalten werden wird".
Welches Unheil diese Finanzpolitik – auf Druck der Deutschen – in der EU angerichtet und unbestreitbar auch zur Stärkung rechter Kräfte geführt hat, kann tagtäglich vor allem in den südeuropäischen Ländern beobachtet werden, insbesondere in Italien. Doch soweit muss man gar nicht gehen. Es genügt ja der Blick vor die eigene Haustür. Die starke Behinderung bis hin zur Unmöglichkeit, in Infrastruktur im weitesten Sinne, sprich in Zukunft zu investieren, spürt hierzulande doch jeder. Ob es marode Straßen, Brücken oder Bahnlinien sind, die nicht repariert oder neu beschafft bzw. hergestellt werden können, oder über Jahre hinausgeschobene Schulsanierungen, m. a. W. die Strangulierung und Ausblutung der öffentlichen Haushalte, vorweg die der Kommunen, ist das Ergebnis dieser Politik, der gerade diejenigen am stärksten ausgesetzt sind, die zu den Schwachen der Gesellschaft gehören.
Sicher, an dieser Politik festzuhalten, wurde auch in der SPD kritisiert, aber sie hat all dies dann doch mehrheitlich mitgetragen, macht also Politik wider besseres Wissen, getrieben von neoliberalen Kräften, denen das Gemeinwohl grundsätzlich fremd und gleichgültig ist. Offensichtlich sind die Zerstörungen der eigenen Grundlagen durch die "Schrödersche Agenda" so tiefgehend, bewusstseinstrübend und geschichtsvergessend, dass der Partei auch hier die Kraft fehlt, sich davon zu befreien.
Abschließend will ich diese Politik der SPD wider besseres Wissen und gegen die eigene Programmatik an der Bildungspolitik, diesem gesellschaftspolitisch grundlegenden Politikfeld, kurz darstellen. Diese Kritik ist nicht neu, aber da die SPD uneinsichtig und auch ängstlich, mut- und ideenlos daran festhält, ist es unverzichtbar, diese Kritik zu wiederholen  und zu erneuern.
Nach langer parteiinterner Diskussion hat der Bundesparteitag der SPD 2007 in Hamburg ein Grundsatzprogramm beschlossen, in dem im bildungspolitischen Kapitel die traditionsreiche und identitätsstiftende Forderung nach dem gemeinsamen Unterricht für alle Kinder bis zum 1o. Schuljahr erneut festgeschrieben, also die Schule für Alle als Ziel formuliert und gefordert wurde.
Es wäre ein Anlass gewesen, dieser Partei für ihre eigene Selbsterkennung zu gratulieren. Doch fast am gleichen Tag veröffentlicht die damalige rheinland-pfälzische Bildungsministerin, die diesen Punkt des neuen Grundsatzprogramms federführend mit vorbereitet hatte, die sog. Strukturreform in Rheinland-Pfalz, mit der die "Realschule plus" aus der Taufe gehoben wurde. Ich muss an dieser Stelle nicht die Einzelheiten dieses, sehr zurückhaltend gesagt, unzulänglichen Schritts darstellen. Es war jedenfalls das ziemlich krasse Gegenteil dessen, was die Partei sich in Hamburg selbst ins Stammbuch geschrieben hatte. Ist das erklärbar? Man muss dazu sagen, dass die SPD damals in Rheinland-Pfalz zum ersten und wohl auch zum einzigen Mal in der Geschichte allein regierte, sie musste also auf keinen Koalitionspartner Rücksicht nehmen. Aber sie nahm Rücksicht auf die Erwartungshaltung der konservativen Kräfte im Land, Rücksicht auf Verbände, insbesondere auf den reaktionärsten unter ihnen. Angst vor einer klaren Positionierung, vermeintlich alle "mitnehmen" zu wollen und die Verherrlichung der sog. "kleinen Schritte" als Maßgabe für das politische Wollen entschieden wieder einmal über das, was man gerade selbst entschieden und somit erklärt hatte, was man eigentlich will. Die Erwartungen der die Schule für Alle unterstützenden Kräfte spielen dabei, wie bei anderen Maßnahmen auch, keine Rolle. Ob dadurch Mitglieder oder vielleicht sogar Wähler verprellt werden, scheint nie eine Frage zu sein. So vegetiert diese "Reform" seit Jahren vor sich hin, konnte die seitens der Politik großmäulig in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen und zementiert auf Dauer dieses selektive, unsoziale, ungerechte und demokratiewidrige System. Dass es zudem von Schuldenbremse und Schwarzer Null gebeutelt wird mit all den Auswirkungen, wie mangelnde Ressourcen und fehlendes Personal, soll nicht unerwähnt bleiben.
Diese wortreichen Halbherzigkeiten zeigen sich auch in der Frage der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Hierzu wird vor fünf Jahren ein durchaus ansehnliches Schulgesetz geschrieben und beschlossen, das ein Inklusives Schulsystem fordert. Doch die Schritte dahin sind ärgerlich klein bzw. sie werden erst  gar nicht gegangen. Das Schulsystem bleibt grundsätzlich unangetastet. Gymnasien müssen sich an der gesetzlich geforderten Transformation des Bildungssystems gar nicht beteiligen, und die Sonderschule mit all ihrem systemimmanten Stigmatisierungswahn wird durch den Elternwillen gesichert, ein besonders feiger bildungspolitischer Schritt, weil Veränderungen und damit bildungspolitische, ja, politische Entscheidungen und Verantwortung billig weggeschoben werden können. Wenn das System nicht inklusiv wird – wir haben ja alle Voraussetzungen dafür geschaffen -, dann darf dies nicht mehr der Politik angelastet werden, sondern die Eltern entscheiden halt so, bekommt man achselzuckend von der Politik zu hören. Dass dies dann auch noch als fortschrittlich und als gutes Beispiel von Partizipation dargestellt wird, ist perfide und auch zynisch, vor allem aber – ich wiederhole es – politisch ausgesprochen feige.
Meine Hoffnung, die UN-BRK gerade in Rheinland-Pfalz gut realisieren zu können, war vorhanden. Den Ausbau der Schwerpunktschulen, die in der Zeit vor der UN-BRK im Jahr 2001 rechtlich festgemacht wurde, habe ich unterstützt als Einstieg in den flächendeckenden gemeinsamen Unterricht. Aber das ist jetzt, wenn man die davorliegende Zeit der Schulversuche hinzunimmt, weit mehr als 20 Jahre her und die  Forderungen der UN-BRK liegen seit 10 Jahren auf dem Tisch. Herausgekommen ist nichts, außer einigen wenigen weiteren, längst nicht das gesamte System erfassenden Schwerpunktschulen. Das  Gesamtsystem ist prinzipiell so selektiv geblieben wie vor dieser Zeit. Über die Politikfähigkeit dieser Partei darf man dann schon mehr als ins Grübeln kommen, gerade weil sie in einem ihrer ureigenen Politikfelder, der Bildung, mit der die SPD seit Beginn ihrer Geschichte das Versprechen von Emanzipation, gesellschaftlicher Gleichheit und gesellschaftlichem Aufstieg der Benachteiligten zu verbinden wusste, so grundsätzlich versagt.
Hier ist so viel verloren gegangen, wofür die Partei einst stand und somit ein weiterer unwiderruflicher Vertrauensverlust, ein weiterer, geradezu masochistischer Schritt in die Bedeutungslosigkeit.   
Die SPD des 21. Jahrhunderts wurde zu einer Partei, die nicht mehr den Mut hat, ihrer eigenen Programmatik zu vertrauen und dort Kraft zu suchen und neue Anfänge zu wagen. Stattdessen hat sie fast ausschließlich ihre Kritiker im Blick, ihre Angst vor ihnen ist bis zur eigenen Handlungsunfähigkeiten gewachsen. Die Strategie, sich vor allem deren Wünsche zu eigen zu machen, sollte inzwischen doch als grundlegender Fehler erkannt worden sein. Aber auch hier habe ich meine Zweifel, wenn man die Reaktion einzelner, bis vor kurzem führender Genossen auf die Wahl in Dänemark ansieht. Sie empfehlen u. a. auch die fremden- und asylfeindliche Politik der Dänischen Sozialisten als Beispiel für erfolgreiche Politikinhalte auf die eigene Politik zu übertragen. Den humanen Markenkern, der ja schon mehr als kräftige Kratzer hat, gleich ganz aufzugeben, ist die hässliche und vergiftete Botschaft. Das ist zwar zum Glück in der Partei noch nicht mehrheitsfähig, aber allein die Tatsache, dass Gabriel und andere dies ernsthaft ins Gespräch bringen, unterstreicht nachdrücklich, auf welch falschen und düsteren Weg sich die Partei während der letzten Jahre eingelassen hat. Dazu passt leider, dass ein Hetzer wie Sarazin immer noch Parteimitglied sein darf.
Für mich steht also eine Entscheidung an. 1994 bin ich trotz erheblicher Bedenken in die SPD in einen der kleinsten Ortsverbände der Pfalz eingetreten mit zwölf freundlichen, ja geradezu liebevollen, aber höchst aktiven Mitgliedern. Nach 25 Jahren selbst mitgestalteter Politik in Beruf und verschiedenen Parteigremien reicht meine Hoffnung nicht mehr aus, dass diese Partei ihr Selbst wiederfindet, ihren Mut, sich zu erinnern, sich zu positionieren, Konflikte zu wagen und durchzustehen, Personalkonflikte meine ich damit wirklich nicht, wiewohl zu diesen Anforderungen selbstverständlich auch das mutige und konfliktfähige Personal gehört.
Meine Geduld ist zu Ende, ich werde die SPD verlassen, länger schon hatte ich es vor. 


Frieder Bechberger-Derscheidt
KL, 18. 6. 2019