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GEW-Fortbildung Kindeswohlgefährdung: Aufmerksame und einfühlsame Fachkräfte nötig

Im Jahr 2015 wurden in Rheinland-Pfalz 6.708 Verfahren zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung abgeschlossen, 275 mehr als im Vorjahr (vgl. Statistisches Landesamt; PM 134/15.07.16). Kinder und Jugendliche, die aufgrund der aktuellen oder vergangenen Lebenssituation in ihrer Entwicklung oder gar ihrem Leben gefährdet sind, stellen kein alleiniges Problem gesellschaftlicher Randgruppen oder bestimmter Milieus dar. Fälle von Kindeswohlgefährdung existieren in allen Landkreisen und Städten des Landes Rheinland-Pfalz. In jeder Kita, wie auch in jeder Schule braucht es deshalb aufmerksame und einfühlsame Fachkräfte, die Gefahren für Kinder oder Jugendliche erkennen und wissen was zu tun ist.

Was ist Kindeswohlgefährdung?

Mit steigender Sensibilität für lebens- und entwicklungsgefährdende Umstände von Kindern und Jugendlichen im familiären bzw. außerschulischen Umfeld oder Umfeld der Kita, steigt die Zahl der Fragen von Fachkräften zum Vorgehen in solchen Fällen. Hierzu lud der GEW Kreisverband Koblenz-Mayen im Rahmen eines Fortbildungsnachmittags Sabine Schmengler, Koordinatorin des „Netzwerk Kindeswohl“ der Stadt Koblenz, ein. Zahlreiche Fachkräfte aus  Kindertagesstätten und Schulen verfolgten interessiert ihren Vortrag und diskutierten Fragen allgemeiner und fallbezogener Art.

- Ab wann ist ein Kind oder Jugendlicher so gefährdet, dass ich als Lehrer_in oder Erzieher_in tätig werden muss?

- Welche Schritte sind notwendig, wenn sich der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung verhärtet?

- Was genau passiert, sobald ein Verfahren zur Umsetzung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung nach §8a SGB VIII vom Jugendamt eingeleitet wird?

Mit zahlreichen Beispielen verdeutlichte Frau Schmengler zunächst alltagstypische Anlässe für Verdachtsmomente:

- Kommt Peter in letzter Zeit trotz Minustemperaturen ohne Jacke in die Schule?

- Fallen bei Lisa mehrere blaue Flecken am Körper auf?

- Verhält sich Ingo plötzlich ruhig und zurückgezogen, obwohl er sonst sehr kontaktfreudig ist?

- Weint Anna in der Pause, weil sie Angst hat heute nach Hause zu gehen?

- Widersetzt sich Paul immer wieder den Bitten der Erzieher und wirkt aggressiv im Umgang mit anderen Kindern?

Derartige Situationen können den Fachkräften in Schulen und Kitas Anlass geben, sich zu fragen: Wie geht es dem Kind oder dem Jugendlichen eigentlich? Es bieten sich folgende Kategorien von Erscheinungsformen für Kindeswohlgefährdung an:

1. Vernachlässigung

2. körperliche Gewalt bzw. Misshandlung

3. seelische Gewalt

4. sexuelle Gewalt / sexueller Missbrauch

 

Akute oder latente Gefahr?

Nicht immer verbirgt sich hinter einer plötzlichen oder auch schleichenden Veränderung bzw. Auffälligkeit eine akute Kindeswohlgefährdung. Akut ist die Gefahr, sobald ein/e Beobachter/in nicht mehr ausschließen kann, dass das Kind oder der Jugendliche aktuell eine erhebliche Schädigung erleidet oder sogar das Leben bedroht ist. Ob dies tatsächlich der Fall ist oder sich die Annahme lediglich auf einige Vermutungen stützt, ist für die Fachkraft oft schwer zu klären. In solchen Situationen ist der Austausch mit Kollegen/innen, die bestenfalls das Kind auch kennen, unbedingt notwendig. Im Idealfall nehmen Eltern Auffälligkeiten an ihrem Kind wahr und entscheiden sich eigeninitiativ Veränderungen einzuleiten oder Unterstützung anzunehmen. Manchmal schaffen es Erziehungsberechtigte nicht aus eigener Kraft die Gefahr für das Kind oder den Jugendlichen abzuwenden. In diesen Fällen braucht es den Weg zum Jugendamt, um Hilfe für die Familie zu organisieren.

Auch wenn ein sofortiger Handlungsbedarf der Fachkraft nicht angebracht scheint, so gilt es ebenso Hinweisen auf latente Gefahren für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen nachzugehen. Schließlich kann sich aus latent gefährdenden Bedingungen eine akute Gefahr entwickeln. Fehlt es zum Beispiel einem Kind regelmäßig an Anerkennung, kann es sich selbst oder andere durch das aus dem Mangel resultierende geringe Selbstwertgefühl, unter Umständen gezielt in eine lebensbedrohliche Situation bringen, um so als letzten Hilferuf Aufmerksamkeit für die eigene Not zu erhalten. Im Umgang mit dem Verdacht latenter Kindeswohlgefährdung ist ein ebenso bedachtes Vorgehen im Team wie bei akuter Gefahr erforderlich, keinesfalls Alleingänge.

Was tun bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung?

Kontakt zum Kind

Jede Fachkraft, die etwas an einem Kind beobachtet, was ihr Sorgen bereitet, sollte sich nach Austausch mit Kollegen zuerst Zeit für das Kind bzw. den Jugendlichen nehmen. Eine gute Beziehung zum Kind ist der wichtigste Schlüssel, um als vertrauensvolle Bezugsperson ein sicherer Ort für Kinder und Jugendliche in Not zu sein. In einem vertrauensvollen Gespräch mit dem Kind oder dem Jugendlichen unter vier Augen geht es darum eigene Beobachtungen und Sorgen mitzuteilen, allerdings nicht die eigenen Vermutungen zu äußern.

Austausch mit Kollegen oder Kolleginnen und ein Elterngespräch

Merkt die Fachkraft nach einem Gespräch mit dem Kind bzw. dem Jugendlichen, dass die Sorge um das Wohl des Kindes sich bestätigt oder neue Fragen sich aufdrängen, ist es ratsam sich erneut mit Kollegen und Kolleginnen auszutauschen. Anschließend bietet sich an ein Elterngespräch zu führen und ebenso offen über eigene Beobachtungen und Sorgen, nicht aber über Bewertungen und Vermutungen zu sprechen.

Die „Insoweit erfahrene Fachkraft“ (INSOFA) kontaktieren

Es gibt Verdachtsmomente, die Anlass geben zuerst eine externe Beratung in Anspruch zu nehmen, um den Umgang mit dem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung gut zu planen. Fachkräfte sollten sich immer, sobald Unsicherheit besteht, wie sehr gefährdet das Kind wirklich ist, Unterstützung durch eine sogenannte „Insoweit erfahrene Fachkraft“ (INSOFA) holen. Deren Kontaktdaten sind beim Jugendamt erhältlich. Dies ist vor allem wichtig bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch, besonders wenn ein Täter im familiären Umfeld des Kindes / des Jugendlichen vermutet wird. Auch bei häuslicher Gewalt kann es sinnvoll sein, erst einmal nicht mit den Eltern zu sprechen. Aber ebenso, wenn sich nach einem Gespräch mit den Eltern die Gefahr nicht mindert. Anspruch auf diese Form der Beratung haben Fachkräfte gemäß §4 (2) KKG Bundeskinderschutzgesetz in jedem Fall von Verdacht auf Kindeswohlgefährdung. Sie zu nutzen ist im Sinne einer genauen Abklärung von Risiken für das Kind unbedingt zu empfehlen.

Dokumentation

Schließlich ist eine gute schriftliche Dokumentation von Verdachtsmomenten und beobachtbaren Risikofaktoren wichtig, sollte es später z.B. zu einem gerichtlichen Verfahren kommen. Sie dient aber auch der genauen Informationsweitergabe beim Austausch mit anderen Fachkräften. Wird ein Jugendamt aktiv bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung, so unternimmt es eine eigene Risikoeinschätzung. In diesem Prozess wir erneut abgewogen, ob es sich um akute oder latente Gefahr für das Kind bzw. den Jugendlichen handelt. Manchmal initiiert das Jugendamt weitere Hilfen, auf die Eltern im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes des SGB VIII (§§28 ff., KJHG) einen Rechtsanspruch wie auch eine Mitwirkungspflicht haben.

Mehr Schulsozialarbeit und Zeit für Elterngespräche in Kitas

Ein Kind oder einen Jugendlichen belastet bzw. gefährdet zu beobachten, zu begleiten und mit ihm im Gespräch zu bleiben, ist eine belastende und zugleich verantwortungsvolle Aufgabe für Fachkräfte. Sie ist ohne regelmäßigen Austausch mit Kollegen, auch im Sinne von Psychohygiene und einer externen Beratung oder Supervision kaum zu erfüllen. Zudem ist in erster Linie Zeit notwendig sich um Kinder oder Familien in Not zu kümmern. Es bedarf oft mehrerer Gespräche, Telefonate, eventuell Hausbesuche oder die Begleitung der Familie in eine Beratungsstelle. All dies erfordert unterschiedliche Ressourcen der Fachkräfte in Schulen und Kitas.

Die GEW fordert:

– Stärkung und Ausbau von flächendeckender Schulsozialarbeit

– Absenkung von Klassenmesszahlen in Schulen

– Optimierung der Fachkraft-Kind Relation in Kitas

– Qualifizierte Fachberatung für das Personal in Kitas

– Neubewertung der mittelbaren pädagogischen Arbeitszeit in Kitas

– regelmäßige Qualifikation durch Fort – und Weiterbildung

Mehr Zeit für Kinder und Eltern bedeutet mehr Schutz für das Wohl des Kindes!

Maria Schäfer

(GEW Kreisverband Koblenz-Mayen)

Der Artikel ist ein Vorabdruck aus der GEW-Zeitung 8/2016

Der Beitrag stammt von Maria Schäfer