Wie kam man auf die Idee, „Schreiben nach Gehör“ als Schreiblernmethode einzuführen?
Die Methode „Schreiben nach Gehör“ gibt es gar nicht, das ist ein Missverständnis. Die Kinder schreiben nicht nach Gehör, sondern sie orientieren sich beim Schreiben am Sprechen. Dabei versuchen sie, die Lautkette des Gesprochenen zu gliedern, um den Sprechlauten passende Buchstaben zuzuordnen. Dazu benutzen sie eine Anlauttabelle. Dies ist sinnvoll, da unser Schriftsystem vom Schwerpunkt her ein alphabetisches ist: Aus nur 26 Zeichen und Zeichenkombinationen lässt sich jedes nur erdenkliche Wort lesbar konstruieren. Allerdings besteht im Deutschen zwischen den Lauten und den Buchstaben keine 1:1-Beziehung, so dass zusätzlich die Normen der deutschen Orthografie nach und nach gelernt werden müssen.
An dieser Methode scheiden sich die Geister. Befürworter sagen u. a., durch sie würden Kinder schneller und lieber lesen und dadurch auch gerne schreiben. Gegner fürchten, möglicherweise falsch eingeprägte Schreibweisen seien schwer zu korrigieren. Was sagen Sie?
Die Sorge vieler Eltern, dass sich die Kinder mit ihren lautgerechten Schreibungen, die noch nicht allen orthografischen Normen entsprechen, etwas Falsches einprägen könnten, ist meines Erachtens verständlich, aber unbegründet. Beim lautierenden Schreiben konstruieren die Kinder jedes Wort jedes Mal Laut für Laut neu. Dass sich dabei diese Schreibungen nicht in den Köpfen der Kinder festsetzen, belegen eindrucksvoll die Variationen, die die Kinder immer wieder finden: Oftmals wird das gleiche Wort in kurzer Zeit mehrfach unterschiedlich geschrieben, z. B. Fahrat, Fahrrat, Farrat. In Übungssituationen jedoch, die auf das bewusste Merken von Wörtern abzielen, ist es selbstverständlich unabdingbar, dass hier die Wörter richtig geschrieben sind, weil sonst tatsächlich Fehler antrainiert werden.
Wo sehen Sie die entscheidenden Vorteile dieser Methode gegenüber anderen Lernwegen?
Kinder, die mit einem der typischen Lese- und Schreiblehrgänge an die Schrift herangeführt werden, können erst selbstständig lesen und schreiben, nachdem sie alle Buchstaben gelernt haben – und das ist in der Regel erst nach über einem Jahr Unterricht der Fall. Das Schreiben mit einer Anlauttabelle hilft den Kindern nicht nur, mit dem alphabetischen Prinzip die Basis unseres orthografischen Systems zu verstehen, sondern gibt ihnen auch die Möglichkeit, die Schrift von Beginn an für sich zu nutzen. Sie erfahren, dass man mit der Schrift Informationen für sich und andere festhalten und auch weiterleiten kann und dass man sich auch selbstständig Texte erschließen kann. Die Kinder bekommen also von Beginn an ein Werkzeug in die Hand, mit dem sie die Schrift funktional nutzen können.
Welche Studien belegen den „Erfolg“ von lautgerechtem Schreiben?
Seit den 1970er-Jahren gibt es zahlreiche gut belegte Studien zum Schriftspracherwerb, die übereinstimmend das lautorientierte Schreiben als eine wesentliche Entwicklungsphase beschreiben. Untersuchungen aus den letzten Jahren belegen darüber hinaus eindrücklich, dass diese alphabetische Phase als Basis für die weitere orthografische Entwicklung unverzichtbar ist. Für das lautgerechte Verschriften gilt über alle Untersuchungen hinweg: Je vollständiger Kinder in der ersten Klasse die Lautfolge verschriften, desto besser ist ihre Rechtschreibung in Klasse 2 und 3. Besonders bedeutsam ist für mich dabei die Erkenntnis, dass das Lesen und Schreiben lernen eine Denkentwicklung ist und wir das Lernen am besten dadurch befördern können, dass wir den Kindern Einsichten in den Aufbau und die Struktur unseres Schriftsystems ermöglichen. Vor allem aber ist es immer wieder überwältigend, die Freude der Kinder zu erleben, wenn sie selbstständig ihre ersten Wörter und Sätze aufschreiben und erfahren, dass andere ihre Botschaft lesen können!
Nicht jede Methode ist für alle Kinder geeignet …
Wenn damit gemeint ist, dass es Kinder gibt, bei denen man darauf verzichten sollte, ihnen die Funktion und die alphabetische Struktur unserer Schrift zu vermitteln, möchte ich dem energisch widersprechen. Ohne das alphabetische Prinzip unserer Schrift verstanden zu haben, kann man nicht das Ziel, eine möglichst hohe Kompetenz im Bereich des (Recht-)Schreibens zu erlangen, erreichen. Dieses Ziel ist allerdings ein lebenslanges – Rechtschreibkompetenz ist nicht am Ende der Grundschulzeit fertig ausgebildet, sondern entwickelt sich ein Leben lang weiter. Und dazu gehört unabdingbar die alphabetische Phase im Laufe der Schriftsprachentwicklung.
Wie können Pädagoginnen und Pädagogen die Kinder noch besser unterstützen?
Für das orthografische Lernen, das auf der alphabetischen Phase aufbaut, sollten Lehrerinnen und Lehrer über ein großes Repertoire an Herangehensweisen und Unterstützungsmöglichkeiten verfügen. Für manche Kinder ist beim Lesen und Schreiben das Gliedern langer Wörter in Silben hilfreich, andere profitieren mehr davon, wenn man ihren Blick auf die bedeutungstragenden Stammmorpheme richtet. Manche Kinder müssen Merkwörter 25-mal üben, andere nur dreimal.
Zur Person
Erika Brinkmann ist Professorin für deutsche Sprache, Literatur und Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, Landesvorsitzende des Grundschulverbandes in Baden-Württemberg und stellvertretende Bundesvorsitzende des Grundschulverbandes sowie Herausgeberin der ABC-Lernlandschaft.
Aus: GEW-Zeitung Rheinland-Pfalz 10-11/15